Gladbeck. . Ramona kann nicht richtig lesen und schreiben. Bei der VHS lernt sie es. Die WAZ sprach mit der 52-Jährigen über Ausreden, Mut und Mitwisser.
Wenn Ramona in der Schule etwas vorlesen musste, wusste sie das meist schon einen Tag vorher. „Ein Glück“, sagt sie heute. So lernte sie die Textstellen noch am Abend gemeinsam mit ihrer Mutter auswendig. Das Leben der 52-Jährige war oft von Ausreden und dem Versuch bestimmt, ihre Schreib- und Leseschwäche zu verbergen.
Sie gab vor, ihre Brille vergessen oder Kopfschmerzen zu haben. Ließ immer andere für sich lesen. „Das tat mir weh.“ Aber: Etwas gemerkt habe nie jemand. Auch in der WAZ möchte sie anonym bleiben.
Es fing in der Grundschule an
Heute geht es ihr besser. „Ich traue mich inzwischen auch bei Ämtern Formulare auszufüllen“, sagt Ramona stolz. Es gab aber auch andere Zeiten. „Zeiten, in denen ich fix und fertig war.“ Begonnen hatte alles in der Grundschule.
Im VHS-Kurs bekommen Betroffene Hilfe
Die Kurse für funktionale Analphabeten bei Ellen Dahlberg und Katrin Tilly-Schettgen finden mittwochs von 18.30 bis 20.45 Uhr im Berufskolleg Gladbeck statt.
Vertrauliche Beratungen sind unter 99 23 09, persönlich dienstags von 11 bis 13 Uhr oder nach Vereinbarung im Haus der VHS, Zimmer 27, bei Martina Galla möglich.
Da setzte ihr Lehrer die Gladbeckerin ganz nach hinten. „Ich konnte aber schlecht hören und habe schließlich den Anschluss verloren.“ In der vierten Klasse wechselte Ramona auf die Sonderschule, wurde mitgeschliffen, schaffte ihren Hauptschulabschluss.
Viele trauen sich nicht, einen Kurs zu besuchen
Immer noch ist es ein Tabuthema, wenn jemand nicht lesen oder schreiben kann. Rund 7,5 Millionen Menschen in Deutschland gelten als funktionale Analphabeten. Sie können zwar einzelne Sätze lesen und schreiben, haben aber Schwierigkeiten bei zusammenhängenden Texten. „Viele trauen sich nicht, in unseren Kurs zu kommen“, sagt Ellen Dahlberg, Dozentin bei der VHS, die einen Kurs für Betroffene anbietet.
Ramona hat sich getraut. Aber: „Es hat viel Überwindung gekostet.“ Als sie das erste Mal mit Ende 20 den Kurs besuchte, war sie ganz aufgeregt. Grund für ihren mutigen Schritt: die Geburt ihres Sohnes. „Ich wollte ihn unterstützen können, wenn er in der Schule einmal Hilfe brauchen sollte.“ Heute studiert Ramonas Sohn Wirtschaftswissenschaften.
Mit der Zeit sicherer geworden
Manchmal hat Ramona gar keine Lust, den VHS-Kurs zu besuchen. Würde dann lieber zuhause bleiben als Lesen und Schreiben zu üben. „Dann sagt mein Mann aber, dass ich gehen soll. Er unterstützt mich.“ Sie ist sicherer geworden mit der Zeit. „Und andere machen auch Fehler“, sagt die 52-Jährige.
Gerade steht Ramonas Kurspartner Peter an der Tafel. „Ich laufe gerne“, schreibt er mit der weißen Kreide. „Wird laufen jetzt groß oder klein geschrieben?“, fragt er unsicher in die Runde. Dozentin Ellen Dahlberg hilft ihm. „Überleg mal.“ Da fällt es Peter ein: „Laufen tue ich, deswegen wird es klein geschrieben.“ Richtig. „Super, Peter“, sagt Ramona und hebt den Daumen.
Betroffene verstecken ihre Schwäche
Die meisten Betroffenen verstecken ihre Schwäche gut. „Viele gehen sogar arbeiten“, sagt Dozentin Katrin Tilly-Schettgen. Auch Ramona begann nach der Schule eine Ausbildung zur Altenpflegerin, scheiterte an der schriftlichen Prüfung. Also arbeitete sie in Hilfsjobs, in der Imbissbude und in der Hauswirtschaft. Über 20 Jahre trug sie Zeitungen aus. Die Adressen der Leser lernte sie auswendig, verglich die Buchstaben der Anschriften mit denen der Straßenschilder.
„Analphabeten haben immer einen Mitwisser, der sie unterstützt“, sagt Tilly-Schettgen. Ramona sieht das anders. „Ich musste mich alleine durchkämpfen.“ Die meisten ihrer Freunde wissen bis heute nicht, dass sie Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hat. Ausreden braucht sie heute jedoch immer seltener.