Gladbeck. . Ein WAZ-Interview mit Müzeyyen Dreessen zur Flüchtlingspolitik und zur aktuellen politischen Debatte.

Müzeyyen Dreessen ist auf vielen gesellschaftlichen Feldern engagiert: Sie ist Initiatorin des interkulturellen Frauenfrühstücks, Ex-Appeltatenmajestät, Vorsitzende des Freundeskreises Gladbeck-Alanya und CDU-Ratsfrau.

Aufmerksam verfolgt die Gladbeckerin die Diskussion um die Flüchlingspolitik und die teils zweistelligen Umfragewerte für die AfD im Vorfeld von drei Landtagswahlen am 13. März. Die WAZ sprach mit Müzeyyen Dreessen über Gladbeck, Deutschland und Europa im Februar 2016.

Frau Dreessen, immer vehementer wird Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgeworfen, im September 2015 mit der Grenzöffnung für Flüchtlinge die falsche Entscheidung getroffen zu haben – was sagen Sie dazu?

Dreessen: Als Ungarn damals seine Grenzen dicht machte und mit Tränengas und Wasserwerfern immer rabiater gegen Flüchtlinge vorging, um sie zurückzudrängen, zeigte Deutschland seine Bereitschaft zu helfen. Ich möchte mir die Spaltung und den Unfrieden in unserem Land nicht vorstellen, wenn sie als Kanzlerin keine Hilfsbreitschaft gezeigt und gesagt hätte, dass wir das nicht schaffen. Im Laufe von 47 Jahren, die ich in Deutschland lebe, war diese Grenzöffnung einer der bewegendsten Momente. Ich habe Stolz empfunden auf dieses Land. Nicht nur den Flüchtlingen hat die Kanzlerin Hoffnung gegeben.

Migration und Integration werden in Deutschland und Gladbeck seit Jahrzehnten diskutiert und praktiziert – wann sind wir am Ziel?

Verschiedene Regierungen haben das Projekt einer besseren Integration von Zuwanderern in die Gesellschaft in den letzten 50 Jahren nicht vollständig bewältigt, aber man erwartet jetzt innerhalb von etwa gut einem halben Jahr, dass Kanzlerin Angela Merkel die Konflikte mit dem Flüchtlingsaufkommen aus der ganzen Welt löst. Auf der einen Seite gibt es ständig Kritik vor allem auch von der Schwesterpartei CSU, auf der anderen Seite ziehen die Länder Europas nicht an einem Strang. Und dann wundert man sich, dass rechtspopulistische oder gar rechtsextreme Parteien in vielen Staaten der EU ständig weiteren Aufwind bekommen. Nicht die Flüchtlinge sind das Hauptproblem, sondern wie die Politik damit umgeht.

Aber die Bundesrepublik allein kann nicht die Flüchtlinge der ganzen Welt aufnehmen, die Leistungsfähigkeit des Landes und auch einer Stadt wie Gladbeck ist begrenzt. . .

Zunächst einmal ist festzustellen: EU-Recht und Grundgesetz sehen Obergrenzen nicht vor. Jeder Flüchtling hat ein Anrecht auf ein geregeltes Asylverfahren. Aber die Politik reagiert ja zugleich auf den Flüchtlingszustrom: Inzwischen sind mit dem Asylpaketen I und II mehr Länder zu „sicheren Herkunfsstaaten“ erklärt worden oder die Flüchtlinge aus den Balkanländern werden gar nicht mehr auf die Kommunen verteilt. Diese und weitere Maßnahmen werden nach und nach greifen, und die Zahl der Flüchtlinge wird sinken. Keiner von uns in Gladbeck hat wegen der Flüchtlinge weniger Lohn, Arbeitslosengeld oder Hartz IV in der Tasche.

Wird die aktuelle Flüchtlingsdebatte angemessen geführt?

Wir vergessen auch allzu leicht, dass die westlichen Länder aus Eigeninteresse mit ihrer jahrzehntelangen Unterstützung von Diktatoren, Lieferung von Waffen oder unnötigen Kriegen zum Teil die Fluchtursachen mit verstärkt haben. Und wir tun es immer noch z. B. in Bezug auf Saudi-Arabien oder die Türkei. Regimekritik wird dort im Keim erstickt und die Pressefreiheit eingeschränkt.

„Das Ende für das heimelige Gladbeck“ hat die WAZ im Lokalteil Gladbeck vor wenigen Tagen mit Blick auf den globalen Flüchtlingszustrom getitelt – sehen Sie das auch so?

Wenn wir das heimelige Gefühl in unserer Stadt nicht verlieren wollen, dürfen wir bei der Neuzuwanderung die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.

Fehler der Vergangenheit – was meinen Sie damit konkret?

Wenn nach 50 Jahren Zuwanderung zum Beispiel an einem Karfreitag immer noch mit lautstarker Musik gefeiert wird, haben wir die konsequente Wertevermittlung an die Neuzugewanderten versäumt. Das Fundament und der Rahmen unseres Zusammenlebens kann nur die freiheitlich demokratische Grundordnung sein, also das Grundgesetz. Nicht diejenigen Stimmen und Medien sollten zählen, die uns in unseren Vorurteilen gegenüber andere Kulturen und Religionen bestärken wollen, sondern Dialog und Zusammenspiel hier vor Ort sollten zählen: die gleichberechtigten Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen an Bildung, Ausbildung und Arbeit, das Zusammenwirken in Nachbarschaften und Vereinen, der gegenseitige respektvolle Umgang miteinander. Diesen Respekt vor unseren Grundwerten müssen wir von allen konsequenter einfordern.

Was sagen Sie zu den derzeit bundesweit stetig wachsenden Umfragewerten für die Alternative für Deutschland (AfD)?

Ich vertraue darauf, dass die Gladbeckerinnen und Gladbecker nicht anfällig für eine rechtspopulistische Partei wie die AfD sein werden, mit der uns wahrlich keine besseren Zeiten bevorstehen würden. Ich bin im Jahr 1969 als Kind von unserem Vater nach Deutschland geholt worden, nachdem er als angeworbener „Gastarbeiter“ nicht mehr alleine leben konnte. Auch ich und meine türkische Familie haben im Laufe unseres Lebens in Deutschland Ausgrenzungserfahrungen gemacht. Mein deutscher Ehemann wurde an meiner Seite sogar schon einmal von Jugendlichen als „Rassenschänder“ bezeichnet, als wir mal Hand in Hand spazieren gingen. Einer solchen Gesinnung will ich – und können wir alle nicht – das Feld und diese schöne Stadt Gladbeck überlassen.