Vor zehn Jahren wurde das Gladbecker Bündnis für Familien – Erziehung, Bildung, Zukunft ins Leben gerufen. Erste Erfolge sind schon sichtbar

Bildung und Erziehung sind Grundvoraussetzungen für die Zukunft einer Gesellschaft. Eine Binsenweisheit eigentlich, aber man muss Konsequenzen daraus ziehen, wenn sich etwas bewegen soll. In Gladbeck ist genau das passiert: Am 1. Juli 2005 schlossen sich im Innovationszentrum Wiesenbusch unter Federführung von Bürgermeister Ulrich Roland freie Träger, Schulen, Kindertagesstätten, Kirchen und Verbände zum „Bündnis für Familie – Erziehung, Bildung, Zukunft“ zusammen. Das gemeinsame Ziel: die Situation von Kindern und ihrer Familien in Gladbeck zu verbessern. Zum 10. Geburtstag des Bündnisses sprachen wir mit dem Sozialdezernenten Rainer Weichelt und mit Bettina Weist, der Leiterin des Amtes für Bildung und Erziehung.

Was war der Anlass für die Gründung dieses Bündnisses?

Weichelt: Eigentlich war es das ganz persönliche Anliegen des 2004 neu gewählten Bürgermeisters, Bildung und Erziehung in den Mittelpunkt der Politik zu rücken. Ulrich Roland lag und liegt dieses Thema besonders am Herzen – wohl wissend, dass die Stadt allein nicht viel bewegen kann, sondern viele kompetente Partner braucht.

Weist: Und wenn man etwas bewegen will, muss man Geld in die Hand nehmen. Schon für das Jahr 2005 wurden 650000 Euro für das Bündnis bereitgestellt, zur Finanzierung unterschiedlichster Projekte. Manche gibt es heute nicht mehr, weil sie ihren Zweck erfüllt haben, etliche haben sich mittlerweile verstetigt und werden aus dem „normalen“ städtischen Haushalt finanziert, und noch immer kommen neue dazu. Gemeinsam mit den Kooperationspartnern spüren wir bei regelmäßigen Sitzungen der fünf Werkstätten „weiße Flecken“ auf der Karte der Hilfsangebote auf und entwickeln entsprechende Konzepte, um diese Lücken zu schließen.

Welche Projekte würden Sie als die wichtigsten bezeichnen?

Weichelt: Wichtig waren und sind sie alle. Einige haben sich vielleicht als besonders effektiv erwiesen. Ich denke beispielsweise an „Kinder im Blick“: Ein paar Wochen nach der Geburt eines Kindes bekommt jede Familie Besuch von einer Sozialpädagogin oder Hebamme, die nicht nur einen Karton mit Geschenken, sondern auch jede Menge Informationen für die jungen Eltern und ganz viel Wissen rund ums Baby mitbringt und auch als Lotsin zu Institutionen fungiert, wenn die Familien Hilfe brauchen. 4500 Eltern mit Neugeborenen haben wir damit inzwischen erreicht – und wir waren überall willkommen.

Weist: „Opstapje“, das Sprachprojekt „Rucksack“ und „Gesund aufwachsen in Gladbeck“ gehören ganz sicher auch zu den besonders erfolgreichen Angeboten. Es gibt dank des Bündnisses Integrationshelfer an den Grundschulen, Eltern-Kind-Sprechstunden, den Jugendrat, das Familienbüro, eine enge Zusammenarbeit mit Eltern, um nur einige zu nennen. Und dass die Jugenduniversität, um die uns viele Städte beneiden, auch ein „Kind“ des Bündnisses ist, weiß kaum noch jemand.

Was hat das Bündnis in den vergangenen zehn Jahren bewirkt?

Weist: Auch dazu kann man nur ein paar Schlaglichter nennen. Gladbeck ist als „familienfreundliche Kommune“ zertifiziert und Modellkommune „Kein Kind zurücklassen“. Die Versorgungsquote in den Kindertageseinrichtungen hat sich für die unter Dreijährigen signifikant erhöht. 2008/2009 gab es für 25,7 Prozent der zweijährigen Kinder einen Platz in Kitas oder bei Tagesmüttern, 2014/15 schon für 55,2 Prozent. Bei den Einjährigen konnten wir die Quote 3,3 Prozent auf 10,8 Prozent erhöhen Das Ganztagsangebot an den Grundschulen ist deutlich ausgeweitet worden. Zehn Kindertageseinrichtungen sind mittlerweile Familienzentren.

Weichelt: Der erste Familienbericht aus dem Jahr 2007 zeigte Defizite ganz klar auf und brachte die auch für uns überraschende Erkenntnis, dass in Gladbeck viele arme und armutsnahe Familien leben. Der Bericht hatte übrigens das Integrierte Handlungskonzept für eine familienfreundliche Stadtmitte zur Folge. Fünf Jahre später hatte sich laut Familienbericht 2012 die Situation der Familien schon verbessert, besonders deutlich ablesbar an der messbar besseren Sprachkompetenz. Und eines, was nach außen nicht so sichtbar wird, ist ein ganz besonderer Erfolg des Bündnisses für Familien: Es ist gelungen, auf dem Weg zum gemeinsamen Ziel ein sehr dichtes Netz von Akteuren zu knüpfen, die alle im Interesse von Kindern und Familien an einem Strang ziehen. Man kennt sich, man vertraut einander. Da greift ein Rad ohne Reibungsverlust ins andere.

In zehn Jahren ist manches bewegt worden. Für Sie ein Grund, sich zufrieden zurückzulehnen?

Weichelt: Ganz sicher nicht. Das Bündnis für Familien ist auf Nachhaltigkeit angelegt. Man kann nicht einfach einen Schalter umlegen, sondern braucht einen langen Atem. Wir lernen immer noch dazu.

Weist: Wir entdecken immer wieder Stellschrauben, an denen wir drehen müssen. In Kürze startet zum Beispiel das Projekt „Sprechzeit“. Die Deutschkurse für Flüchtlinge werden vom Lionsclub finanziert, die Flüchtlingshilfe der evangelischen Kirche steuert das Know-how bei. Einiges zu tun gibt es auch noch im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir brauchen beispielsweise längere Betreuungszeiten in den Kindertagesstätten, früher am Morgen und länger am Nachmittag, um auf die Arbeitszeiten von Eltern zu reagieren. Aktuell sind wir dabei, ein Arbeitgebernetzwerk zu etablieren mit dem Ziel, auch bei den Betriebszeiten die Situation von Familien im Blick zu haben.

Das Bündnis für Familien ist also eine Erfolgsgeschichte, die weiter geschrieben wird?

Weist: Auf jeden Fall. Alle gemeinsam haben wir schon eine Menge erreicht, und ich bin sicher, wir werden noch mehr bewirken. Dass wir auf dem richtigen Weg sind, bestätigen uns auch Anfragen aus anderen Städten, in denen wir unser Konzept präsentieren und dafür viel Anerkennung hören.


Weichelt: Wir sind ganz sicher auf dem richtigen, auf einem guten Weg, und wir können auch stolz sein auf das, was wir schon erreicht haben. Die Babys, die wir zum Start des Bündnisses vor zehn Jahren in den Blick genommen haben, wechseln jetzt gerade die Schule. Was wir tatsächlich bewirkt haben mit all den Angeboten, wird sich möglicherweise ganz deutlich erst dann zeigen, wenn diese jungen Menschen ins Berufsleben wechseln.