Gladbeck. . Ein aktuelles WAZ-Interview mit Müzeyyen Dreessen, Vorsitzende des Freundeskreises Gladbeck-Alanya, zur politischen Lage in der Türkei.

In dieser Woche berichtete die WAZ-Lokalredaktion über den Bombenanschlag auf die Friedensdemonstration in Ankara, der am 10. Oktober über 100 Todesopfer forderte.

Allein Gladbecks türkische Partnerstadt Alanya hat sechs Tote zu beklagen, darunter die Vorsitzende der örtlichen „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP), Fatima Batur. Die WAZ sprach mit Müzeyyen Dreessen, Vorsitzende des Freundeskreises Gladbeck-Alanya, über die Lage in der Türkei kurz vor der Parlamentswahl am 1. November, bei der auch türkischstämmige Bürger in Deutschland abstimmen können (Voraussetzung: türkischer Pass oder doppelte Staatsbürgerschaft).

Frau Dreessen, Anfang November sind Parlamentswahlen in der Türkei - die „Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt“ (AKP) mit ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan will auf jeden Fall die absolute Mehrheit erreichen und die HDP von der politischen Bühne drängen. Sie waren gerade dort, wie ist aus Ihrer Sicht die Lage?

Dreessen: Wir hatten alle gehofft, dass zu Beginn der AKP-Regierungszeit mit Erdoğan das Land endlich Reformen einleitet und die demokratischen Werte das Handeln bestimmen, dass sich die Regierung immer stärker Europa zuwendet. Sie hat auch gut begonnen und Vieles geleistet. Leider zeigt sich aber in den letzten Jahren eine autoritäre Entwicklung. Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten.

Wie zeigt sich das konkret?

Ganze Familien und Freundeskreise sind wegen politischer Meinungsverschiedenheiten zerrissen. Dem Land mag es wirtschaftlich gut gehen, aber um welchen Preis? Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz sind stark gefährdet. Religion wird oft für politische Zwecke missbraucht. Wo dies geschieht und Menschen anfangen Politiker wie Götter zu verehren, gefährdet das aus meiner Sicht die Demokratie.

„Die Polarisierung überträgt sich auch auf Deutschland“

Wirkt sich das auch auf die Situation in Deutschland und Gladbeck aus?

Die Polarisierung überträgt sich auch auf Deutschland, wie wir an manchen Demonstrationen beobachten können, wo Türken und Kurden oder Aleviten aneinandergeraten. Auch hier in Gladbeck ist es oft nicht möglich, mit manchen Türkeistämmigen diese Themen offen zu diskutieren. Bist du nicht meiner Meinung, bist Du ein Nestbeschmutzer, lautet oft die Devise.

Wie stellt sich die Situation in der Türkei für Oppositionelle aus Ihrer Sicht da?

In den 14 Monaten seit Erdoğan Präsident ist hat die Justiz 236 Ermittlungsverfahren eingeleitet. „Beleidigung des Präsidenten“ ist die am häufigsten genutzte Waffe, um Kritiker zum Schweigen zu bringen. Artikel 299 des türkischen Strafgesetzbuches sieht Haft bis zu vier Jahren für die Beleidigung des Staatsoberhauptes vor. Darüber hinaus kann man seine Arbeit verlieren, als Unternehmen keine öffentlichen Aufträge erhalten oder plötzlich die Steuerfahndung vor der Tür haben. Dazu kommt, dass einem vorgeworfen werden kann, einer Terrororganisation oder einem Parallelstaat anzugehören.

„Kritische Journalisten werden auch mal öffentlich verteufelt“

Welche Auswirkungen hat diese Lage auf die Pressefreiheit in der Türkei?

Kritische Journalisten werden auch mal öffentlich verteufelt, so dass die Selbstjustiz zuschlägt, wie vor Kurzem bei dem prominenten Redakteur der Zeitung „Hürriyet“ und Moderator von politischen TV-Sendungen, Ahmet Hakan, der auf dem Weg nach Hause von vier Männern krankenhausreif geschlagen wurde. Drei von ihnen waren AKP-Mitglieder, die dann von der Partei ausgeschlossen wurden.

Wie bewerten Sie die aktuelle Rolle der HDP?

Sie ist zu einem Bündnis oppositioneller Kräfte geworden, das inzwischen nicht nur die kurdische Bevölkerung anspricht, sondern alle Türken. Bei der letzten Wahl sind sie daher auch nicht nur von der kurdischen Bevölkerung gewählt worden und haben die 10-Prozent-Hürde in das Parlament geschafft. Damit war auch die Einführung des Präsidialsystems für Erdoğan vom Tisch. Leider ist seitdem auch die Friedenspolitik mit den Kurden vom Tisch.

„Friedensprozess mit den Kurden muss weitergehen“

Mit weitreichenden Folgen für die innenpolitische Lage in der Türkei. . .

Obwohl Organe des Staates in den letzten Jahren mit der PKK und mit dem Kurdenführer Öcalan im Gefängnis verhandelt haben, um den Frieden zu sichern, soll das alles plötzlich nicht mehr möglich sein. Die Menschen verstehen es nicht. Die Mütter, deren Söhne auf beiden Seiten sterben, verstehen es nicht. Man greift jetzt stark die HDP an und unterstellt ihr, mit der PKK zu kooperieren, um sie vor der Wahl zu schwächen. Sie tritt aber, aus meiner Sicht, besonnen auf und macht keinen polarisierenden und spaltenden Wahlkampf. Ohne den Einzug der HDP in das Parlament und damit der Vertreter der kurdischen Minderheit sehe ich den Frieden in der Türkei erheblich gefährdet.

Wie lautet Ihr größter Wunsch für die Zeit nach dem Wahltermin?

Ich hoffe, dass nach dem Wahltag am 1. November alle Parteivertreter ihre persönlichen Interessen beiseite legen können und dass für das Wohl des Landes und seiner Menschen eine Koalition gebildet werden kann. Die Prognosen zeigen, dass es auch diesmal keine absolute Mehrheit für die AKP geben wird.