Gladbeck. Der Gladbecker Heiner Kermann war als Handelsreisender kurz nach der Maueröffnung in West-Berlin. Er berichtet von dem hautnah miterlebten Freudentaumel, den Tränen und dem Ausnahmezustand an den historischen Tagen in der zuvor so lange geteilten Stadt

„Wie am 9. November 1989 die ersten Grenzübergänge nach West-Berlin freigegeben wurde und in den Folgetagen die Mauer fiel, das werde ich nie vergessen“, erzählt Heiner Kermann. Denn hatte der Gladbecker das bewegende Ereignis zuerst noch wie so viele via Nachrichten und Liveberichte daheim in Rentfort am Fernsehen verfolgt, so war er kurz darauf selbst mitten drin im historischen Geschehen. Für den 13. hatte er wie schon so oft zuvor das Hotel in der Nähe vom Ku’damm gebucht, um als Geschäftsreisender eine großen Molkereiprodukteherstellers aus dem Münsterland die Handelspartner in West-Berlin zu besuchen. „Diese Mal war alles anders als sonst.“

Schon am Grenzübergang Marienborn sei der Transitverkehr flüssiger abgefertigt worden. „Als ich mit dem Auto dann am Kontrollposten vorfuhr, die Seitenscheibe runtergekurbelt hatte, ist mir vor Aufregung der Ausweis aus der Hand gefallen.“ Und das „vorher Unvorstellbare“ sei geschehen. Denn hätte dieser verdächtige Fehler sonst sicher zur Totalkontrolle des Fahrzeuges geführt, „ist dieses Mal der Grenzer aus seinem Kontrollhäuschen herausgekommen, hat den Ausweis aufgehoben und mir freundlich ins Auto gereicht“. Da habe er gewusst, „hier weht jetzt wirklich ein anderer Wind“.

Ein Eindruck der sich für ihn in einem anrührend-symbolhaften Anblick weiter bestätigte. „Kurz vor dem Grenzübergang zu Berlin, im Niemandsland entlang der Transitautobahn, da hockten am Fuß der Sperrmauer drei Kinder, die friedlich miteinander spielten.“

Je näher er dann ins Zentrum von West-Berlin gefahren sei, desto voller wurden die Straßen mit Menschen, „ich bin kaum bis zum Hotel durchgekommen“.

Gutgelaunte Massen wie bei einem Volksfest hätten sich über den Ku’damm gewälzt. „DDR-Bürger, die kilometerlang vor Banken angestanden hatten, um ihre 100 DM Begrüßungsgeld abzuholen und dann das einzukaufen, was sie sich schon lange

gewünscht haben.“ Auch Musikläden wurden belagert, Schallplatten in Mengen herausgetragen, „CD-Spieler hatte ja damals kaum einer in der DDR.“

Kinder seien auf ihn zugekommen, hätten ihm die heiß ersehnte und gerade gekaufte West-Cola-Dose mit der Bitte um Hilfe entgegen gehalten. „Die wussten nicht, wie man die oben aufmacht.“

Heiner Kermann selbst trieb es Richtung Brandenburger Tor. Auf der Mauer tanzende Menschen waren vor dem historischen Bau nicht mehr anzufinden. „Da war schon wieder formalere Ordnung eingekehrt. DDR-Grenzer

patrouillierten auf der Mauer und an der Westseite waren Flatterbandabsperrungen vor der Mauer gezogen, hinter denen Bundesgrenzer standen.“

Kermann zückt seine kleine Kamera, dokumentiert die Szenen, jubelt kräftig mit, wie die Mauer neben dem Brandenburger Tor mit schwerem Gerät weiter geöffnet wird. „Da liefen fortlaufend Bürger aus dem Osten herüber. Familien, junge und alte, teils völlig fassungslose Menschen, denen die Tränen in Strömen herunterliefen.“

Auch Heiner Kermann hat beim Betrachten seiner Bilder und den vielen Erinnerungen feuchte Augen. „Es war so wichtig und richtig, dass das so lange geteilte Deutschland

endlich wieder vereinigt wurde.“ An dem Tag selbst in den Osten hinüber zu gehen, das hat er sich aber noch nicht getraut. „Da standen noch immer so viele DDR-Grenzer“ und da sei immer noch ein leichter Zweifel gewesen, „ob das jetzt wirklich alles so bleibt“.

Zur Nikolaikirche in Leipzig 

Zur ersten Frühjahrsmesse nach der Maueröffnung reiste Heiner Kermann im März 1990 nach Leipzig. „Die Firma war dort mit einem Stand vertreten“, so der damalige Außendienstmitarbeiter eines Molkereiprodukteherstellers.

Im Kopf höre er noch das monotone „Tok-tok“ der Fahrt über die Nähte der aneinandergefügten Fahrbahnplatten der DDR-Autobahn. Die sei aber noch komfortabel im Vergleich zu den Buckelpisten gewesen, „die kleinere Ortschaften miteinander verbanden“.

Gerade im Frühjahr habe es bei den Ortsdurchfahrten zudem ziemlich gestunken, „von der zum Heizen verfeuerten Braunkohle schwebte oft eine Smogwolke über den Häusern“. Er könne sich noch genau daran erinnern, wie entsetzt er auch über den schlechten baulichen Zustand in Leipzig gewesen sei. „Im Fernsehen war ja immer wieder mal über die wirtschaftlichen Probleme der DDR berichtet worden, aber das wirklich alles so marode ist, hätte ich nicht gedacht.“ Ihm wäre es so vorgekommen, „als ob 90 Prozent der Häuser abrissreif sind“.

Ein schöner Moment sei indes der Besuch der Nikolaikirche gewesen. „Von der die Friedensgebete und Massendemonstrationen ausgingen.“ Für die deutsche Einheit, die erst einige Monate nach Heiner Kermanns Besuch im Beitrittsvertrag der DDR zur BRD offiziell besiegelt wurde, am 3. Oktober 1990.