Gelsenkirchen. Beim Vorlese-Workshop gibt André Wülfing den Teilnehmerinnen mehr als nur grundlegende Tipps. Voller Enthusiasmus ermutigt er dazu, die Philosophie des Vorlesens zu erfahren.

Die acht Frauen haben ganz unterschiedliche Bücher und Geschichten mitgebracht. Tina Hog (52) aus Bottrop ist mit dem Alten Testament in dem kleinen Pförtnerhäuschen des Consol Theaters aufgeschlagen. Getrude Nagel aus Gladbeck hat sich für „Das Schneeglöckchen“ von Hans Christian Andersen entschieden. Fabeln, Märchen und Krimis machen das literarische Potpourri auf den zusammengeschobenen Holztischen in der kreativen Stube perfekt.

André Wülfing, Hauserzähler im Consol Theater und Leiter der dort seit fünf Jahren angesiedelten Vorlesegruppe „Die Bucheckern“, hat eingeladen. Zum Workshop „Vorlesen: Wie geht das noch schöner?“ Zum ersten Mal. Immer wieder haben Menschen bei entsprechenden Veranstaltungen Interesse an solch einem Angebot bekundet, sagt Wülfing. Als er es dann erstmals vor einem Jahr angeboten habe, sei niemand gekommen. Aber: Die Nachfrage ließ nicht nach. „Jetzt habe ich noch mal angesetzt und der Zuspruch ist da“, freut sich der Workshop-Leiter.

Beispiel Bibel

Die Frauen hängen an seinen Lippen. („Es sind immer nur Frauen bei solchen Themen, das ist ein bisschen komisch.“) Enthusiastisch plädiert er dafür, den Geschichten beim Vorlesen Leben einzuhauchen, die Figuren klar voneinander abzugrenzen. Tina Hog liest aus dem Alten Testament einen Hebräerbrief vor. Den muss sie bald als Kantorin vortragen. Deshalb ist sie hier beim Workshop. Als sie das Buch zuschlägt, schaut sie gespannt in die Runde.

„Das ist natürlich ein besonderes Textbeispiel“, sagt André Wülfing. „Besonders auch in der Überlegung, was man daraus machen kann.“ Der Erzähler spricht dabei eher von einer Melodie, es sei schon klar, dass man nicht nuscheln dürfe und laut sprechen müsse. „Die Bibel ist ein superspannendes Buch, man sollte es nicht immer in einem Singsang vorgurken“, so der Consol-Erzähler. Seine Workshop-Teilnehmerinnen sollen sich Gedanken darüber machen, was in Texten steckt, was darin passiert, was aus ihnen herausgeholt werden kann. Wülfing: „Es geht darum, den Text für mich zu erobern.“

Vom starren Textgerüst gelte es sich mitunter zu lösen, sich zu befreien von den Erwartungshaltungen des Verfassers oder des Verlags. Mit Margit Kruse nimmt auch eine echte Autorin am Vorlese-Workshop teil. Sie hat einen ihrer Krimis mit zum Workshop gebracht. An sie gerichtet sagt André Wülfing: „Vergessen sie mal, dass sie das geschrieben haben.“ Ein Ratschlag, der wohl nicht so leicht zu befolgen sein dürfte. . .

Pausen etwa bei Ortswechseln

Einfacher ist da schon der Tipp, dass bei Personen-, Zeit- und Ortswechseln Pausen zu machen sind. Doch der Bucheckern-Chef belässt es nicht bei erwartbaren Basics. Man könne seinen Zuhörern ein Geschenk machen, so dass sie auf neue Art und Weise zuhören würden. Dafür gebe es ganz einfache Mittel, die jeder anwenden kann. Bei Dialogen könne eine Person langsam und leise sprechen, die andere als Kontrast dazu schnell und laut. Auch sei es durchaus erlaubt, einer Figur einen Sprachfehler anzudichten. Dazu müsse man nicht übertreiben, es reiche ein sparsam gesetztes Zischen, um die Figur bei den Zuhörern ankommen zu lassen. „Man muss gar keine große Schauspielkunst beweisen“, sagt Wülfing. Oft können die Frauen nur staunen, wie leicht aus wenigen Worten auf Papier ein ganzer Film im Kopf wird.