Gelsenkirchen. In ihrer Eigenschaft als gesetzliche Betreuerin einer alten Dame schlägt Ingrid Wüllscheidt Alarm: Die fachärztliche Versorgung in Altenheimen sei problematisch. Mit dieser Einschätzung ist sie nicht allein

Es ist bereits vier Wochen her, seit der Hausarzt einer alten Dame, die im Awo-Seniorenzentrum an der Grenzstraße lebt, deren Betreuerin Ingrid Wüllscheidt dringend empfahl, einen Neurologen beziehungsweise Psychiater hinzu zu ziehen. Die über 80-jährige Frau wollte nicht mehr essen und trinken. Was durchaus neurologisch-psychiatrische Ursachen haben könnte. Aber: Bis heute war kein Neurologe am Bett der alten Frau.

Dafür schlägt Ingrid Wüllscheidt in ihrer Eigenschaft als Berufsbetreuerin nun Alarm. Weil die laut Gelsenkirchener Patenschaftsmodell zuständige Facharztpraxis nicht mehr zuständig sein will. Also rief Ingrid Wüllscheidt bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Westfalen-Lippe in Münster an. Denn, sagt sie, auf der Suche nach einem anderen Facharzt sei sie durchweg abgewiesen worden.

Neues Versorgungsstrukturgesetz

Mit dem Verweis, für dieses Altenheim sei doch die andere Praxis zuständig. Nicht mehr, wie die Betreuerin nun allerdings weiß. Ein individueller Einzelfall – sicher. Aber: die Spitze des Eisbergs eines allgemeinen Problems. Das sagen auch Markus Pudel vom Sprecherrat Altenheime in der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft (PSAG) und Dieter Spannenkrebs vom Vorstand der Alzheimer-Gesellschaft proDem e.V. : „Es gibt eigentlich schon lange eine neurologische Unterversorgung in Gelsenkirchen.“ Aus vielen Kontakten wisse man, so Spannenkrebs, dass auch die ambulante Versorgung nicht ausreichend sei. Tenor der Kritik: Die Zahl der niedergelassenen Neurologen/Psychiater werde an der Einwohnerzahl, nicht aber am tatsächlichen Bedarf einer Stadt im demografischen Wandel, wie gerade Gelsenkirchen ihn erlebt, bemessen.

Was sich möglicherweise im kommenden Jahr ändern könnte. Christopher Schneider, Sprecher der KV Westfalen-Lippe: „Das neue Versorgungsstrukturgesetz fordert zu einer neuen Bedarfsplanung auf. Diese Bedarfsplanung soll sich an individuellen Faktoren orientieren.“ Die alte gesetzliche Bedarfsplanung stammt aus dem Jahr 1993. Und die stützt die Zahl niedergelassener Neurologen auf die Formel: ein Facharzt für 31.373 Einwohner.

Statistische Überversorgung

Zurzeit gibt es laut Schneider elf niedergelassene Neurologen. Das gesetzliche Soll liegt bei neun. Rein statistisch hat GE damit einen neurologischen Versorgungsgrad von 128,4 Prozent.

Verkehrte Welt, mag man da denken. Und die alte Dame wartet immer noch auf den Facharzt.