Die aktuellen Zehntklässler sind die letzten ihrer Art: Sie dürfen noch neun Jahre lernen, dann kommen die ersten Klassen des achtjährigen Gymnasiums. Das Problem: Eine „Ehrenrunde” sieht das System nicht vor.
Für Generationen von Schülern war es ein Grundrecht. Ein lästiges und ungeliebtes zwar, aber eines, das man im Notfall einsichtig in Anspruch nahm: das Sitzenbleiben. Für den letzten Jahrgang des neunjährigen Gymnasiums wurde es zwar nicht völlig außer Kraft gesetzt, zumindest aber stark eingeschränkt.
„Unser Ziel war ganz klar: Es darf keiner sitzen bleiben”, sagt Ursula Klee, Schulleiterin des Ricarda-Huch-Gymnasiums: „Wir haben die ersten Klassenarbeiten abgewartet, geschaut, wer besonders gefährdet ist. Dann haben wir die Schüler individuell gefördert.” Mit Erfolg. Im letzten Schuljahr blieb am Ricarda-Huch kein einziger Neuntklässler sitzen, stadtweit waren es nur fünf Schüler und Schülerinnen an den sieben Gelsenkirchener Gymnasien. Ein normaler Wert für diesen Jahrgang liegt bei zwei Sitzenbleibern - pro Klasse, wohlgemerkt. „Die Entwicklung ist sehr erfreulich”, kommentiert Bildungsdezernent Manfred Beck, weiß aber auch, dass diese Zahlen durch einen „besonderen Druck auf die Schulen” zustande kamen.
Für Sitzenbleiber gibt es drei Möglichkeiten
Dieser Druck ist Teil der komplizierten Problematik rund um die Reformen zum verkürzten achtjährigen Gymnasium (G8). Für die Schüler des letzten G9-Jahrgangs - im vergangenen Jahr noch die neunte Klasse, aktuell die zehnte - gibt es drei Möglichkeiten, wenn sie sitzen bleiben: „Sie können die Klasse einfach wiederholen”, sagt Manfred Gast, Rektor am Grillo-Gymnasium. Diese Schüler kämen dann aber in die erste G8-Klasse, deren Lernstoff den Anforderungen gleicht, an denen sie gerade scheiterten. Die Zurückstufung um zwei Klassen löst zwar dieses Problem, „allerdings wird es dann mit der sozialen Integration dieser deutlich älteren Schüler schwierig”, weiß der stellvertretende Schulleiter des Gauß-Gymnasiums, Franz-Ludger Schürmann.
Bleibt noch der Weg zur Gesamtschule, die am neunjährigen System festhält, oder zur Realschule: Diesen gingen vier der fünf Sitzenbleiber. Eine eigene Klasse für die „Problemfälle” lohnt sich nicht. „Die bekommen wir nie zusammen, nicht mal stadtweit”, sagt Ursula Klee mit Blick auf die Zahlen. Es gibt also keinen Plan B - nicht für die Schüler, nicht für die Schulen.
Sitzenbleiben ist verboten, daher wird Nachsitzen absolut notwendig: „Durch gezielte Förderung, Sonderprogramme für versetzungsgefährdete Schüler und konzentrierte Nachhilfe haben wir alle Schüler gerettet”, sagt Manfred Gast vom Grillo-Gymnasium, wo ebenfalls niemand sitzenbleiben musste. Wenn solche Erfolge also durch individuelle Förderung der Schüler zustande kommen, drängt sich vielleicht die Frage auf: Warum nicht immer so? „Wir haben den Aufwand mit eigenem Personal und aus eigenen Mitteln betrieben”, sagt Gast: „Das können wir nicht immer leisten. Es war ein Kraftakt.”
Der nächste "Kraftakt" steht bevor
Und ein solcher steht den Gymnasien auch im laufenden Schuljahr bevor: Denn danach treten die jetzigen Zehnt- und Neuntklässler gemeinsam in die Sekundarstufe II ein und verschärfen das Problem weiter: „Wir haben den Schülern klar gesagt: Wenn es jetzt jemanden trifft, dann wird es für ihn ganz, ganz schwierig”, sagt Ursula Klee vom Ricarda-Huch-Gymnasium. Vielleicht aber auch ganz leicht: Ironischerweise kann ein Zehnt-klässler, bleibt er im nächsten Sommer sitzen, mit seinen alten Klassenkameraden in die neue Oberstufe gehen - nur eben nach G8.