Gelsenkirchen. Die hektischen Passanten bemerken den Mann im Rollstuhl oft nur beiläufig. Seine Musik ist aber schon von Weitem zu hören und begleitet die Vorbeigehenden für einige Augenblicke auf ihrem Weg. Medet Kalkan sorgt seit einigen Monaten mit seiner Saz für orientalisches Flair im Einkaufstrubel der Bahnhofstraße.

Am Mittwoch hat der Anatolier abseits des Trubels gespielt. Gemeinsam mit Autor Timucin Davras hat er bei der Kunst Peripherie Ruhrstadt (KPR) zu einer musikalischen Lesung eingeladen.

Auf die Idee, den Straßenmusiker in das Programm der KPR einzubinden, ist Künstler Helmut Warnke gekommen. „Ich habe Medet schon oft auf der Straße spielen gehört“, so Warnke. „Und ich mag wie er in sich selbst versunken sein Instrument spielt.“ Schnell bekam Warnke Lust auf mehr. Der Wunsch: Ein gemeinsames Programm mit Autor Timucin Davras und dem Saz-Spieler. Die achte Auflage der KPR, bei der fünf leer stehende Ladenlokale vorübergehend mit Kunst und Veranstaltung belebt werden, hat sich angeboten. Mit Klara Wardetzki stellt Warnke bis morgen in einem alten Friseursalon an der Von-Oven-Straße 7 (Galerie „inbetween“) Arbeiten aus. Abends gibt es an den KPR-Standorten Live-Programm.

Medet Kalkan war von der ungewöhnlichen Idee schnell angetan. Ohnehin fühlt sich der 48-Jährige hier bestens aufgehoben. Mindestens drei mal pro Woche kommt der Bielefelder zur Bahnhofstraße. „Zwischen Deutschen und Türken herrscht hier eine besondere Harmonie“, so Kalkan, der seit 10 Jahren in Deutschland lebt. „Das ist einmalig und das habe ich so woanders noch nicht erlebt.“

Vor 16 Jahren wurde Kalkan bei einem Arbeitsunfall durch ein zusammenstürzendes Baugerüst verletzt. So schwer, dass beide Beine oberhalb des Knies amputiert wurden. Seit dem widmet er sich noch stärker dem Instrument, das er schon sein halbes Leben spielt. Sein Vorbild ist Asik Veysel, ein blinder Saz-Spieler und Volksheld aus der Türkei. Dass Medet Kalkan auch eine imposante Stimme hat, zeigte er bei der Interpretation eines der Lieder seines Vorbildes. Darin geht es um die Verbrüderung der Menschheit. Diesem Vorhaben hat sich auch Kalkan verschrieben, der ausschließlich Volkslieder, nichts Religiöses, zum Besten gibt.

Kalkan sorgte mit der verträumt klingenden Saz am Mittwoch für den nachdenklichen Teil. Eine Extraprotion Humor gab es mit den Gedichten und Texten von Timucin Davras. Der 83-Jährige, der 2008 den Publikumspreis beim Wettbewerb „Gelsenart“ gewonnen hat, schreibt über das Ruhrgebiet und Gelsenkirchen, über Liebe und über seine verstorbene Katze. Der Maschinenbauingenieur in Rente schimpft über die Sanierung des Hans-Sachs-Hauses und über die Politik im Allgemeinen. Mit der Weisheiten eines Türken, der seit 50 Jahren die Deutschen und das Leben studiert, schmeckt er seine Lesung ab. Am Ende bekennt der Gelsenkirchener: „Die Türkei ist meine Heimat, aber Deutschland ist mein Land.