Gelsenkirchen. Günter Schermer, späterer Polizeipräsident, promovierte 1957 mit einer Arbeit zur Situation der Prostituierten Gelsenkirchens. Kopien dieser Arbeit sind jetzt wieder aufgetaucht. Ein aus heutiger Sicht bemerkenswertes, aber auch befremdliches Werk.

Noch eine Aufsehen erregende Doktorarbeit, diesmal aber ohne Plagiatsverdacht: Mit „Ursachen und Erscheinungen der Nachkriegsprostitution in Gelsenkirchen“ promovierte Günter Schermer 1957 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln. Kopien dieser Arbeit des späteren Gelsenkirchener Polizeipräsidenten schlummerten offenbar viele Jahre in Archiven, bis sie von einem Kölner Antiquariat für 40 Euro angeboten wurden und so den Weg zur WAZ fanden. Vorab: Bemerkenswert ist dieses 210-Seiten-Werk allemal, doch aus heutiger Sicht auch befremdlich.

Befragung von ansässigen Prostituierten

Bemerkenswert, weil Schermer für diese Arbeit alle 39 in seiner Heimat Gelsenkirchen registrierten Prostitutierten, sechs „heimliche“ Dirnen sowie 5 Ex-Prostituierte befragen konnte. Eine „gut lösbare Aufgabe“, schrieb der Doktorand – arbeitete er doch vor dem Studium als Polizeibeamter im Sittendezernat Gelsenkirchen. Die Mehrzahl der Befragten war ihm also bestens bekannt. Für seine Interviews hat er zudem turnusmässige polizeiliche Kontrollen in den Wohnungen der Prostituierten und die Pflichtuntersuchungen im Gesundheitsamt nutzen können.

Die „Gewerbeunzucht“ sei nur im Freien ausgeführt worden, beschrieb Schermer den Ist-Zustand. Seit 1951 sei der Wildenbruchplatz Hauptsammelpunkt aller Prostituierten.

Konfliktfrei lief das Geschäft mit dem Käuflichen aus Schermers Sicht aber nicht ab. Zentrales Ergebnis der Doktorarbeit: Die damals im Grundsatz nicht strafbare Prostitution sei „eine Brutstätte des Verbrechens“. Und: „Schon die Tatsache, dass auf jede Gelsenkirchener Dirne nebst Zuhälter durchschnittlich 3 1/3 Jahre Freiheitsentzug entfallen, beweist, dass das Dirnen- und Zuhälterwesen ein nicht geringes Kontingent zum gewerbsmässigen Verbrechen stellt.“ Deshalb sei es nötig, sie weiterhin zum Gegenstand kriminologischer Betrachtungen zu machen.

Blick auf die Katastrophalen Lebensbedingungen

Befremdlich ist dieses Zeitdokument in mehrfacher Hinsicht. Zum einen, weil es den Fokus auf die katastrophalen Lebensbedingungen der gesellschaftlich geächteten Frauen und ihre erschütternden Biographien wirft. Ein großer Teil des Befremdens ist aber auch auf die aus heutiger Sicht ungewöhnliche Diskussionsgrundlage und Herangehensweise zurückzuführen. So kommt Schermer zwar zu dem Ergebnis, dass es entgegen der Theorie früherer führender Kriminalanthropologen keine „geborene“ Prostitution gebe. Aber: „Anlage und Milieu sind für das Abgleiten zur Prostitution in gleicher Weise verantwortlich“.

Atemberaubend wird es für den Leser, wenn der Verfasser, wohlgemerkt: ein Jurist, Urteile wie diese über die befragten Frauen abgibt: „moralisch schwachsinnig“, „sie ist offensichtlich psychopathisch“ oder „ihre perverse Triebhaftigkeit dürfte eine Folgeerscheinung des Klimakteriums sein“. Und: Die Aufzählung körperlicher Merkmale in den „Befunden“ zu allen Prostituierten (viereckige Kopfform, freihängende Ohrläppchen, niedrige zurückweichende Stirn ...) wecken Assoziationen an die Rassenkunde der NS-Zeit und führen zudem ins Leere. Denn jenseits der stereotypen Aufzählung haben sie für die Arbeit offenbar keinerlei Bedeutung.