Region im Rausch: Am 24. Juni 1934 gewinnt Schalke 04 erstmals den Titel - und Hiltler gewinnt an Einfluss
„Papa” Unkel - mit bürgerlichem Vornamen Fritz, seines Zeichens Präsident des FC Schalke 04 - gibt sich im Interview mit der Gelsenkirchener Allgemeinen Zeitung zuversichtlich: „Ich vertraue mit ganz Gelsenkirchen auf unsere Mannschaft, und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn's daneben ginge”, zitiert ihn das Blatt. „Ja, wir fahren mit der festen Überzeugung nach Berlin, dass es zum Deutschen Meister reicht. Ein bisschen noch den Daumen halten - vielleicht geht's dann noch besser.” Die Daumen drücken gewiss viele an diesem Tag.
So groß war die Begeisterung, dass es Tausende aus Gelsenkirchen, aus dem gesamten Ruhrgebiet gewesen sein sollen, die sich auf in die Reichshauptstadt machten, um am 24. Juni 1934 auch unter den 45 000 Zuschauern im alten Poststadion zu sein. Diejenigen aber, die so arm waren, dass sie nicht einmal das Geld fürs Zugbillett aufbringen konnten, bewältigen auf dem Rad die - hin und wieder retour - mehr als 1000 Kilometer.
Daumendrücken freilich auch in Gelsenkirchen. In der Stadthalle, im Waldhaus, in der Hafenschänke, im Cafe Roland, im Restaurant zum Tiergarten, in Forsters Weinstuben, in Stallmanns Garten . . . Noch verfügen die wenigsten Privathaushalte über Rundfunkempfänger, und Fußball hören wird zum Gemeinschaftserlebnis - wie heute das public viewing.
Gebannt also lauschen die Leute, hören, was die Mitgereisten auch sehen dürfen: Hermann Mellage, Hans Bornemann, Ferdinand Zajons, Ötte Tibulski, Fritz Szepan, Valentin Przybylski, Ernst Kalwitzki, Ala Urban, Hermann Nattkämper, Ernst Kuzorra und Emil Rothardt - eine blau-weiße Mannschaft, die sich zwar deutlich besser verkauft als im verlorenen Endspiel noch vor Jahresfrist, die aber dennoch nach einer torlosen ersten Halbzeit, kaum zehn Minuten nach der Pause in Rückstand gerät.
Zunächst kein Rezept
Und das Zittern beginnt. Schalke ist die bessere Mannschaft - findet aber kein Rezept. Torwart Hermann Mellage hält es eine Viertelstunde vor Spielende schon längst nicht mehr im Tor. Es sind nur noch wenige Minuten zu spielen, als ein Gelsenkirchener Taxifahrer einem Fahrgast sagt: „Ich glaube, die Schalker haben verloren.” Wäre er vor dem Radio geblieben, er hätte mit anhören dürfen, wie die Schalker das Blatt drehen.
Kuzorra leitet die Wende ein. Zunächst erkämpft er eine Ecke, die Szepan zum 1:1 köpft (88.). Dann schnappt er sich eine Flanke von Kalwitzki. 20 Meter vom Tor entfernt setzt er sich gegen zwei Nürnberger durch und legt sodann seine letzte Kraft in den Schuss zum 2:1, ehe er vor Schmerzen zusammenbricht (90.). Den Leistenbruch, mit dem er bandagiert im Endspiel antrat, hätte er an sich schon längst operieren lassen sollen.
Nun jubeln die Spieler auf dem Rasen, das Publikum auf den Rängen und die Leute daheim am Radio. „Papa” Unkel nimmt auf der Tribüne wie benommen die ersten Glückwünsche entgegen, überlässt den Gratulanten mal die rechte, mal die linke Hand.
Die Rückreise anderntags im Zug kennt viele Stationen. In Dortmund gar machen die Schalker zwei Stunden Halt, tragen sich ein ins goldene Buch der Stadt. Eine Region im Jubel, große Plakate an den Bahnhöfen: „Schalke wir grüßen Dich”. Blumensträuße, Kränze, Geschenke - Messer aus Solingen, Einladungen ins Sauerland.
Und dann die Ankunft. Menschen drängen auf den Bahnsteig, Frauen fallen in Ohnmacht. „Es kommt einem zum Bewusstsein”, schreibt die GAZ, „dass so etwas Gelsenkirchen noch nicht erlebt hat. Sie sind da, sind wieder in der Heimat, und die Minute steht ihnen bevor, da diese vielen tausend Menschen ihnen den Dank abstatten wollen dafür, dass sie dem Namen der viel verrufenen Stadt solche Ehre heimbrachten.”
Erfolgsphase beginnt
Unkel besteigt unter Hoch-Rufen als erster eine Pferdedroschke. Vom Bahnhof aus geht es durch die menschengefüllten Straßen zum Schalker Markt. Am nächsten Abend beenden ein Fackelzug durch den Stadtteil und ein Feuerwerk die Festtage.
Die erfolgreichste Phase der Vereinsgeschichte freilich mit diesem herrlichen Sieg hat erst begonnen: Bis 1942 stehen die Blau-Weißen in 14 von 18 Endspielen um Meisterschaft (10) und Pokal (8), und sie gewinnen sieben Titel, sechsmal die Meisterschaft, einmal den Pokal.