Gelsenkirchen.
Die Norderweiterung des Chemiestandortes Scholven hat im Rat mit dem Entwurfs- und Auslegungsbeschluss des Bebauungsplans eine weitere Hürde genommen. Am Ziel ist die Maßnahme damit nicht.
Die Grünen hielten der Stadt vor, in der Vorlage für den Rat fehlerhafte Angaben gemacht zu haben. Und auch die Bürgerinitiative Scholver Feld, der im Rat auf Grünen-Antrag ein Rederecht eingeräumt worden war, äußerte erneut grundsätzliche Zweifel und Bedenken an der Entscheidungsgrundlage für den Bebauungsplan. Stadtbaurat von der Mühlen wies diese und weitere im Vorfeld durch den Umweltverband BUND erhobenen Vorwürfe zurück.
Das hohe Maß an Lebensqualität in dem Gebiet drohe dauerhaft und unwiederbringlich für einen ressourcenverödenden Industriezweig weichen zu müssen, sagte BI-Mitglied André Bsdurrek im Rat. Mehrere Versäumnisse warf die BI der Stadt vor und berief sich dabei auch auf einen offenen Brief des Umweltverbandes BUND. „Die schwerwiegenden fachlichen Bedenken sind offenbar ignoriert worden. Hier sehen wir einen Abwägungsfehler“, so der BUND unter Verweis auf die Untere Landschaftsbehörde.
Klagen von Anwohnern über Lärm- und Sichtbeeinträchtigungen sowie zahlreiche Ungenauigkeiten führte André Bsdurrek ins Feld. Einen weiteren Hinweis der BI griff Irene Mihalic (Grüne) auf: Ihre Berechnungen hinsichtlich der Ausgleichsflächen für die Norderweiterung hätten ergeben, dass sich hier in der Tat Mängel und Ungereimtheiten abzeichnen. Nach dieser „Stichprobe“ stelle sich die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Entscheidungsgrundlage für den Auslegungssbeschluss drängender denn je, sagte Irene Mihalic.
Selbst wenn es diese Fehler gäbe, so der Stadtbaurat, hätte dies für die aktuelle Beschlussfassung keine Folgen. Denn: Solchen Hinweisen könne in der anstehenden Phase des Bebauungsplanverfahrens nachgegangen werden.
Klaus Haertel hob noch einmal die Position der SPD hervor: „Der Rat muss eine Abwägung vornehmen und dabei auch im Auge haben, Arbeitsplätze zu halten und zu schaffen“, so der Fraktions-Chef. Und auch das stellte er (unbewiesen) in den Raum: Wenn der Bebauungsplan bereits gültig gewesen wäre, hätte sich „eine Firma aus der Nähe von Frankfurt“ in Scholven angesiedelt. Der Stadtbaurat wollte dies im Rat auf Nachfrage nicht kommentieren.
In Sachen Umwelt- und Naturschutz seien alle Vorgaben eingehalten worden, so Haertel weiter. Dem schloss sich Guido Tann (CDU) an. Als „unerträglich“ bezeichnete er den neuerlichen Vorstoß der Grünen und machte eine Anleihe bei Kanzlerin Merkel: „Sie sind einfach nur die Dagegen-Partei!“
Die BI dürfte dies etwas anders sehen. Sie kündigte an, getreu dem Motto „einen Kampf verloren, aber nicht die Schlacht“ am Ball zu bleiben und sich die Option auf eine juristische Prüfung bezüglich der Mängel vorzuhalten.
Der Redebeitrag der Bürgerinitiative
Und mit diesem Beitrag nahm die Bürgerinitiative Scholver Feld im Rat in Person von André Bsdurrek ihr Rederecht wahr:
„Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Damen und Herren,
zunächst möchte ich mich dafür bedanken, dass sie dem Antrag auf Rederecht stattgegeben haben und ich als Vertreter der BI Scholver - Feld hier vorsprechen kann.
Das Glas ist halb voll, das Glas ist halb leer. Die individuelle Ansicht eines zu 50 % gefüllten Glases entscheidet häufig über die Wahrnehmung eines bestimmten Zustandes. Nicht anders scheint es mit den vorliegenden Gutachten zu sein, welche für die Erweiterung des Chemiestandortes Gelsenkirchen – Scholven in Auftrag gegeben worden sind sowie die erstellte aktuelle Begründung zu dieser geplanten Standortvergrößerung durch die Stadtverwaltung Gelsenkirchen. Hier scheint es auch ein halb voll - eben ein Dafür- und ein halb leer - das beschriebene Wider - zu geben.
Jedoch unterscheiden sich die erstellten Gutachten und die Begründung der Stadtverwaltung zu dem Wasserglas in einem wesentlichen Punkt: Selbst die beschönigendenden Sichtweisen dieser Schriftstücke, können Zweifel und Bedenken nicht verbergen und ausräumen, selbst aus der Sicht der Gutachter nicht.
Inwieweit es zur Wahrnehmungs- und Entscheidungsbildung, der Beurteilung des Sachverhaltes beiträgt, wer das Glas eingeschüttet hat, oder die Gutachten in Auftrag gegeben hat, entzieht sich insofern meiner Kenntnis.
Das Plangebiet im Gelsenkirchener Norden, war bis zur Errichtung des heute noch ansässigen externen Werkstättengeländes ein Teil des größten zusammenhängenden Grün- und Landwirtschaftsgürtels Gelsenkirchens. Diese Fläche hatte, wie Ihnen bekannt, in Zusammenhang mit dem Westteil und der weiteren Umgebung einen sehr hohen Wert für Flora und Fauna in Gelsenkirchen und den angrenzenden Städten.
In der Begründung für die Bebauungsplanung wird ausdrücklich erwähnt: Ich zitiere: „Der zusammenhängende, landschaftlich geprägte Freiraum im Norden des Stadtgebietes von Gelsenkirchen hat gesamtstädtische und regionale Erholungsfunktionen. Es handelt sich um einen Stadtgrenzen übergreifenden Landschaftsraum. ( GE, Dorsten, Marl, Herten, Gladbeck). Das stimmt.
Für die Bürger in Gelsenkirchen bot das Plangebiet ein hohes Maß an Lebensqualität. Diese droht jetzt dauerhaft, unwiederbringlich, für einen, langsam ressourcenverödenden Industriezweig weichen zu müssen. Als Exkurs möchte ich hier nur kurz an den alten Gelsenkirchener Bahnhof erinnern, welcher weichen musste, da Gelsenkirchen seinerzeit auf 400.000 Einwohner zu wachsen schien, und ein moderner Bahnhof vorgehalten werden musste. Die Erfahrung hieraus zeigt aber auch eindeutig, dass es früher wohl anscheinend auch nur eine Momentaufnahme war. Der neue Bahnhof wurde nicht geliebt, vor knapp 4,5 Jahren erneuert. Der gewünschte Charme, konnte jedoch nicht mehr herbeigeführt werden. Die Befürchtung, dass eine kurzlebige industrielle Nutzungsdauer des Plangebietes in Scholven, jahrzehntelang gewachsene zusammenhängende Erholungsgebiete für Bürger, Lebensraum für Tiere nachhaltig zerstört, drängt sich auf.
Unserer Auffassung nach wurde es leider versäumt, für den bereits überbauten Teil des Plangebietes im Vorfeld der erfolgten temporären Baumaßnahmen, ein Artenschutzgutachten zu erstellen. Ein im Nachhinein bereitgestelltes Gutachten spiegelt nicht mehr die ursprünglichen Artenvorkommen dar. Dieses ist nicht wieder herzustellen. In dem offenen Brief des BUND an alle Ratsfraktionen und der örtlichen Presse ist dieses Versäumnis neben vielen anderen nicht akzeptablen Punkten sehr deutlich bemängelt worden. Als BI und auch als normale Bürger stellen wir uns die Frage:
Weshalb wird das fundierte Fachwissen, auch die mehrfachen Empfehlungen des Beirates der Unteren Landschaftsbehörde, in einem jahrelang bekannten Gebiet nicht berücksichtigt, und somit von solch einem Projekt Abstand genommen?
Als Mitglied der Bürgerinitiative sind an mich auch Befürchtungen und Sorgen von Polsumer Bürger herangetragen worden, die ich hier kurz aufgreifen und wiedergeben möchte.
Die Befürchtungen betreffen ganz konkret die Themen „Lärm“ und „Sichtbeeinträchtigung“!
Aktuelle Geschehnisse auf dem bereits vorhandenen alten Werksgelände haben die Bedeutung des Themas „Lärm“ in den letzten Wochen ins Bewusstsein der Menschen gedrängt.
Das Anfahren der Olefin 4 Anlage Ende Oktober hat sehr anschaulich verdeutlicht, was sie den Anwohner zukünftig verstärkt zumuten werden. Es war keineswegs so, dass der Anfahrvorgang - so wie in der Bürgeranhörung vom Lärmgutachter ausgesagt - während der Abendstunden unterbrochen wurde. Auch waren impulsartige Geräusche entgegen der Darstellung in den vorliegenden Lärmgutachten deutlich wahrnehmbar.
Im Gutachten wird die tatsächliche Geräuschimmission gar nicht dargestellt, weil ausschließlich Messungen im Normalbetrieb vorgenommen wurden. Ferner enthalten beide Gutachten keinerlei Angaben zu der Anzahl und Häufigkeit derartiger Anfahrvorgänge in dem Bereich des bereits vorhandenen Werksgeländes und hinsichtlich der weiteren Entwicklung aufgrund der Vergrößerung des Werksgeländes und dem Neubau zusätzlicher Anlagen.
Auffällig und keinesfalls zu akzeptieren sind auch die Ausführungen in dem Schallimmissionsschutzgutachten vom 28.04.2010, wonach die Polsumer Wohngebiete, für die keine Bebauungspläne gelten, nach Auffassung des Gutachters generell keine reinen Wohngebiete sondern lediglich allgemeine Wohngebiete mit einem deshalb geringeren Schutzanspruch vor Lärmemissionen darstellen. Von dieser Einschätzung betroffen sind z.B. Wohngebiete, in denen keinerlei Nutzung vorkommt, die nicht vorwiegend dem Wohnen dient.
Es ist schon erstaunlich wie bei der Lärmbelastung von Wohngebieten mit zweierlei Maß gemessen wird. Und dieses Beispiel aus dem Gutachten ist nur eines von vielen. Jedenfalls ist dies für uns nicht hinnehmbar.
Zum Thema Sichtbeeinträchtigung oder auch visuelle Beeinträchtigung bzw Landschaftsbild ist anzumerken, dass im Freiflächenentwicklungskonzept der Stadt Gelsenkirchen für den Teilraum „Landwirtschaft und Weitblick Scholven“ das Potenzial des offenen Landschaftsraums besonders hervorgehoben wird Wie im Landespflegerischen Fachbeitrag weiter ausgeführt wird, ist eine relevante Zunahme vorhandener Beeinträchtigungen im westlichen, nördlichen und östlichen Landschaftsraum zu erwarten .
Vor diesem Hintergrund nehmen wir zunächst mit Erstaunen zur Kenntnis, dass die Sichtzone III, die bei Eingriffshöhen von größer als 30 m im Rahmen der Eingriffsbilanzierung grundsätzlich zu berücksichtigen ist, völlig außen vor gelassen wurde. Dies erstaunt umso mehr als der Bebauungsplanentwurf tatsächliche Bauhöhen von 150 m vorsieht, also eine 5-fache Überschreitung der Eingriffshöhe. Hier muss also geprüft werden, ob dies überhaupt zulässig ist.
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie noch auf eine Auffälligkeit hinweisen.
Im Verlauf der Bürgeranhörung wurden die Bauhöhen mit 150 m über Normalnull gleich 90 m tatsächliche Bauhöhe angegeben.
Es verwundert schon - jetzt aus den Unterlagen zu erfahren, dass die tatsächliche Bauhöhe 150 m und nicht 90 m betragen soll.
Allem Anschein nach scheint Stuttgart 21 kein Einzelfall zu sein!
In der Begründung steht weiter …..
„ … bei Realisierung der Bebauungsplanung kann es bauzeitbedingt zu Beeinträchtigungen durch zusätzliche Lärm, Staub- bzw. sonstige Schadstoffimmissionen kommen!!!“
Als Anwohner der Kirchellenstrasse kann ich Ihnen nur sagen: „ die Beeinträchtigungen haben bereits heute fast nicht mehr ertragbare Ausmaße angenommen. Vor allem unter dem Gesichtspunkt der Lärmimmissionen. Die verwendeten Gutachten haben die aktuelle Situation nicht aufgegriffen. Durch den Rückbau zweier Kraftwerksblöcke waren wir seit nunmehr fast 3 Jahren zusätzlich andauernden Lärm ausgesetzt. Temporär - wie es heißt. Ebenso temporär sind wohl die stetigen Anfahrarbeiten auf dem BP-Gelände.
Außer Acht gelassen wurde auch der durch die moderne Navigationstechnik aufgekommene Transitverkehr auf der Kirchhellenstrasse. Diese Strasse ist für LKW über 7,5 t zul. Gesamtgewicht gesperrt. Anwohner ausgenommen. Also die ortsansässige Spedition. Jedoch fahren aus Richtung Kirchhellen kommend sehr viele 40t-Sattelzüge über die Kirchhellenstrasse, obwohl die kleine Brücke an der Stadtgrenze weniger Belastung zulässt.
Vor allem in den Hauptverkehrsstoßzeiten, Samstag morgens, nachts, wird der Schwerlastverkehr zunehmend beobachtet. Auch zu dem Werkstattgelände fahrende PKW. Nebenbei bemerkt: Dieses auch in überhöhter Geschwindigkeit.
Inwieweit die aktuellen Veränderungen zu den älteren Gutachten Berücksichtigung finden, ist nirgends beschrieben.
Die von Ihnen als ausreichend deklarierten Ausgleichsflächen erachten wir als nicht ausreichend. Die von Ihnen genannte Ausgleichsfläche stellt im großen Teil keine zusätzliche Ausgleichsfläche dar. 111600 qm immerhin 48,34 % werden für die Ausgleichsfläche „Breiker Höfe“ angegeben.
Hierzu ist anzumerken: Auf Seite 61 der Begründung wird eindeutig erwähnt:
„ Die nicht vermeidbaren Beeinträchtigungen durch Versiegelung können stadtklimatisch nur sehr begrenzt durch Entsiegelungsmaßnahmen ausgeglichen werden. Sie führen zu einem Verlust von klimatischen Ausgleichsräumen und einer Zunahme von Lasträumen….durch Begrünungen und Gehölzeranpflanzungen werden positive Effekte gefördert. Ein Ausgleich für den Verlust von Flächen mit Klimaausgleichfunktionen erfolgt damit allerdings nicht.“
Das Erreichen dieses aus unserer Sicht nicht akzeptabelen Ziels, bedingt jedoch zunächst die Entsiegelung von zusätzlichen Ausgleichsflächen. Die Breiker Höfe sind jedoch nicht versiegelt. Damit geht das Konzept nicht einmal Ansatzweise auf. Zumal ein Teil der genannten Ausgleichsfläche nicht auf Gelsenkirchener Stadtgebiet liegt. Aber es sind ja nur fast 50% der Gesamtausgleichsfläche.
Die Schlussfolgerung hieraus, und aus mehreren zusätzlichen Ungereimtheiten, wie z.B. Differenzen bei Flächenberechnung der Ausgleichsfläche, Auffälligkeiten in der Wert-Punkte-Berechnung, zu geringe zusätzliche Entsiegelungsfläche lassen für uns den Schluss zu, dass die umfangreichen Unterlagen – und damit Ihre Entscheidungsgrundlage – zum Teil fehlerhaft, unvollständig und ohne aktuellen Bezug sind.
All das kann im Grunde nur die Folge haben, dass Sie, sehr geehrte Damen und Herren, dieser Beschlussvorlage, völlig schmerzfrei, auch unter Berücksichtigung der neuen Klimaschutzkonzeption der Stadt Gelsenkirchen, welche wir gerne aufgreifen möchten, nicht zustimmen können, oder in weiteren Beratungen und Sitzungen die Anliegen der Bürger prüfen, ernst nehmen und in die Beratung mit einbeziehen, auf bereits vorhandene Industrieflächen, wie z.B. die alte Kokerei Hassel, oder das Bergmannsglückgelände auszuweichen.
Gestatten Sie mir nun zum Abschluss meiner Ausführung nur noch ein kurzes Wort:
Wenn Sie wider der zu erwartenden Schäden für Mensch, Natur und Umwelt im Plangebiet für die Norderweiterung des Chemiestandortes Scholven votieren, werden wir als BI getreu dem Motto „ einen Kampf, aber nicht die Schlacht verloren“ das Vorhaben weiterhin gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern aus Gelsenkirchen und Marl kritisch begleiten und uns ebenfalls die Option auf eine juristische Prüfung bzgl. der auch Ihnen bekannten Mängel freihalten.
Wenn Sie für die Norderweiterung votieren, hat dieses natürlich für den Bürger einen kleinen Vorteil: Man sieht und riecht was man atmet.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“