Gelsenkirchen.

„Eine gute Tradition“ – dieser Begriff ist häufig nicht mehr als eine Phrase. Im Falle der Veranstaltung zur Erinnerung an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 trifft „eine gute Tradition“ jedoch den Kern.

Denn: Gelsenkirchen galt 1964 bei der von den Falken initiierte Premiere bundesweit als eine Art Vorreiter des öffentlichen Gedenkens an dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte.

Das Gedenken sei damals nicht die einzige Intention des sozialistischen Jugendverbands gewesen, erinnert sich Hans-Jürgen Meißner, der 1964 als 18-jähriger Jung-Falke ein Aktivist der ersten Stunde war: „Uns ging es auch um den Kampf gegen Rechtsextremismus“, sagt der Rentner, der viele Jahre stellvertretender Leiter des Jugendamts war.

Einen wesentlichen Unterschied gab es anfangs aber sehr wohl: Ist die seit 1992 vom breiten Bündnis „Demokratische Initiative“ getragene Veranstaltung längst in der gesellschaftlichen Mitte angekommen, so war dieses Engagement über viele Jahre offenbar vor allem ein Anliegen des linken Spektrums (Awo, Jusos, VVN, Gewerkschaften, SPD etc.). Das zeigt sich zum Beispiel auch in der Berichterstattung der WAZ, die erst seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre wirklich Notiz nahm von dieser öffentlichen Aktion.

Doch es gab auch noch andere Veränderungen: So nahmen die Organisatoren in den 80er Jahren vor allem auf Bitte jüdischer Vertreter Abstand davon, mit Fackeln durch die Straßen der Altstadt zu ziehen - weckte dies doch Assoziationen an die Fackelzüge der Nazis bei ihrer Machtübernahme 1933. Und auch die über viele Jahre gewählte Route durch die Altstadt wurde durch Kundgebungen an symbolträchtigen Gelsenkirchener Orten ersetzt. Friedhöfe in Ückendorf und Horst-Süd zählten ebenso dazu wie das Mahnmal am Gustav-Bär-Platz in Buer oder das Horster Krankenhaus. Eine der bewegendsten Veranstaltungen fand 2005 auf dem ehemaligen Güterbahnhof am Wildenbruchplatz statt, von wo aus die Nazis einst Juden und andere Gruppen in die Konzentrationslager und damit in den sicheren Tod geschickt hatten.

Eine Entwicklung war auch bei der Wahl der (Gast-)Redner zu beobachten. Seit den 80er Jahren setzten die Veranstalter zunehmend auf Prominenz. Mahnende Worte gab es u.a. von Dichter Erich Fried (1987), Schriftsteller Bernt Engelmann (1989), SPD-Größen wie Hans Koschnick (1993) und Hans-Jochen Vogel (1994) oder Professor Hans Mommsen (2005).

Den mit Abstand größten Zulauf hatte die Gedenkveranstaltung vor 18 Jahren. Als Reaktion auf die wachsende Ausländerfeindlichkeit hatte die Stadtdoppelspitze Bartlewski/Bussfeld im Oktober ‘92 die Demokratische Initiative (DI) ins Leben gerufen, die fortan die Falken als Veranstalter der Kundgebung ablöste. Rund 6000 Menschen setzten am 9. November 1992 in Gelsenkirchen ein eindrucksvolles Zeichen gegen den aufkommenden Rechtsextremismus, der zuvor u.a. bei rassistischen Brandanschlägen gegen Ausländerunterkünfte (Hoyerswerda, Rostock) seine Fratze gezeigt hatte.

Inzwischen hat sich noch eine weitere „gute Tradition“ etabliert. Nämlich: dass die DI unter Vorsitz von OB Baranowski auch bei Aufmärschen von NPD oder Pro NRW Flagge zeigt und dem braunen Spuk ein eindringliches „Nie wieder!“ entgegensetzt.

Diesmal in Erle

Am Abend des 9. November 1938 zerschlugen SA und SS Wohnungen und Geschäfte jüdischer Bürger und brannten deren Gotteshäuser nieder. Das mahnende Gedanken an die von den Nazis so genannte „Reichskristallnacht“ findet am Dienstag, 9. November, in Erle statt. Gegen 18.30 Uhr setzt sich am Elisabeth-Krankenhaus (Cranger Str. 226) ein Schweigemarsch in Richtung NS-Dokumentationsstätte (Cranger Str. 323) in Bewegung, wo um 19 Uhr die Abschlusskundgebung stattfindet.