Gelsenkirchen.

Ein schreckliches, ein erschütterndes Dokument: In einer Serie von fünf Fotos ist zu sehen, wie ein Paar in einem „Prangermarsch“ von Nazis durch die Gelsenkirchener Altstadt geführt wird.

Um den Hals müssen sie Schilder tragen. „Ich bin ein Rassenschänder“ steht auf dem Schild des Mannes, „Ich blonder Engel schlief bei diesem Judenbengel“ auf dem der Frau.

Der junge Historiker Friedemann Rincke ist im Nürnberger Stadtarchiv auf die Fotos gestoßen und hat daraufhin die ebenso abstoßende wie bewegende Geschichte hinter den Bildern recherchiert. Am Mittwoch präsentierte er den exemplarischen Fall von Verfolgung so genannter „Rassenschänder“ in der Dokumentationsstätte „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“ in Erle.

Entstanden sind die Fotos des Möbelhändlers Julius Rosenberg (40) und seiner Partnerin Elisabeth Makowiak (23) am 7. August 1935. Begonnen hatte die Demütigung, die ihr Leben verändern sollte, bereits einen Tag zuvor, weiß Rincke aus einer „Ausländerakte“ über Rosenberg.

Ihm sei „seit längerem bekannt“, wird SS-Scharführer Kurt Grün darin zitiert, dass der „Ostjude Rosenberg“ mit dem „Christenmädel“ im „intimen Verkehr“ stehe. Und so stellt sich der Vorfall nach Rinckes Untersuchungen dar: SS-Mann Grün und weitere Schergen lauerten dem Paar am Abend des 6. August 1935 in Gelsenkirchen auf, verfolgten es und nahmen es kurz darauf fest. „Während sie inhaftiert waren, haben ihre Verfolger offenbar den ,Prangermarsch’ für den 7. August organisiert“, so der Historiker.

Als sie am Nachmittag das Gefängnis verließen, wurden sie von einer Menschenmenge erwartet und über Bahnhof- und Ringstraße quer durch die Innenstadt geführt, um zum Schluss noch einmal „ausgestellt“ zu werden. „Für Elisabeth Makowiak muss es eine besondere Schmach gewesen sein, dass auch vor ihrem Elternhaus an der Franz-Seldte-Straße, der heutigen Florastraße Station gemacht wurde“, sagt Friedemann Rincke.

Rosenberg und Makowiak hätten ihr Schicksal mit vielen Paaren in Deutschland geteilt, weiß der Historiker. Im Vorfeld der Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze im September 1935 habe die Zahl der Fälle dieses An-den-Pranger-Stellens deutlich zugenommen. Die Ausgrenzung von Menschen aus der „nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ sei das Hauptziel dieser öffentlichen Inszenierungen gewesen, die sich in der Regel gegen Partnerschaften zwischen jüdischen Männern und nicht-jüdischen Frauen gerichtet hätten.

Für das Gelsenkirchener Paar war es nicht die erste Verfolgung: Bereits 1933 wurde Julius Rosenberg während eines Urlaubs mit Elisabeth Makowiak auf Norderney nach einer Denunziation verhaftet. Auch die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung berichtete anschließend über den Fall. Rincke: „Sie ließen sich aber nicht einschüchtern und blieben ein Paar.“

Nicht so 1935: Nach dem „Prangermarsch“ zog Elisabeth Makowiak nach Hessen um, wo sich ihre Spuren verloren. „Ein Leben war für sie in Gelsenkirchen nicht mehr möglich“, so der Historiker. Wohl auch deshalb, weil die Gelsenkirchener Nationalzeitung sie am 8. August praktisch ein zweites Mal an den Pranger stellte. In dem Bericht hieß es u.a.: „Überall erregte der Zug das Aufsehen, das notwendig ist, um ... vor allem die deutsche Jugend Gelsenkirchens darauf aufmerksam zu machen, dass der Jude ... wie die Pest zu meiden ist.“

Und Julius Rosenberg? Der 1921 nach Gelsenkirchen zugewanderte Galizier konnte 1935 eine Ausweisung zunächst abwenden. Nach der Reichspogromnacht 1938 musste er sein Möbelgeschäft abgeben. Sein Vater wurde abgeschoben, doch Julius Rosenberg blieb: „Wohl deshalb, weil seine Mutter schwer krank war“, so Rincke.

Im Oktober 1939 verhafteten die Nazis Julius Rosenberg in Gelsenkirchen und deportierten ihn ins KZ Sachsenhausen. Dort starb er im Mai 1940.

Foto-Fund in Franken

Der Gelsenkirchener Fall ist zurzeit in der Ausstellung „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus“ in Berlin zu sehen (bis Januar 2011 im Jüdischen Museum). Im Zuge seiner Recherchen für diese Ausstellung stieß Friedemann Rincke, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, im Nürnberger Stadtarchiv (das auch das „Stürmer“-Restarchiv beherbergt) auf die Fotos. Direkte Hinweise auf den Entstehungsort gab es nicht. In Städten fragte er daraufhin die beiden auf den Fotos zu lesenden Adressen ab – und erhielt nur negative Antworten: „Ich wollte schon aufgeben. Doch dann erhielt ich den Brief aus Gelsenkirchen.“ Mit Unterstützung des Instituts für Stadtgeschichte (ISG) konnte er den Vorgang anhand von Akten und Presseberichten rekonstruieren.

Und warum fand der Fall Eingang in eine Ausstellung über Zwangsarbeit? Beim Anprangern der „Rassenschande“ zwischen 1933 und 1935 seien die Nazis nach ähnlichen „Mechanismen der Ausgrenzung“ vorgegangen wie bei den Zwangsarbeitern im Krieg, so Rincke.