Gelsenkirchen.

Die von der Bundesregierung angekündigte Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um 5 Euro löste auch in Gelsenkirchen heftige Reaktionen und Kritik aus. CDU und FDP nahmen diese Maßnahme in Schutz.

Eine Reform, vier Reaktionen:

„Das ist schändlich“, sagt Verdi-Chef Wolfgang Gottschalk über die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um monatlich 5 Euro. Sozialpfarrer Dieter Heisig spricht von einer „Riesenenttäuschung“. Der Christdemokrat Wolfgang Heinberg verteidigt den schwarz-gelben Beschluss im Bund dagegen als „Ausdruck des Machbaren“. Und wie empfindet ein Hartz-IV-Empfänger? „Mir fehlen die Worte“, sagt der Langzeitarbeitslose Martin Dicks . . .

. . . und überwindet im Gespräch mit der WAZ dann doch seine Ohnmacht: „Ich würde mich schämen, wenn ich so entschieden hätte“, sagt der 46-jährige Bueraner, der sich im Verdi-Erwerbslosenausschuss und in der HartzSelbsthilfegruppe der evangelischen Kirche engagiert und noch im Februar auf dem Neumarkt das Bundesverfassungsgerichtsurteil gefeiert hat.

364 Euro statt wie bisher 359 Euro für ihn als Alleinstehenden – „das ist so“, sagt Dicks, „als wenn ich jemandem 50 Cent in die Hand drücke und ihm sage: Jetzt geh’ mal schön davon essen.“

Als Verhöhnung von Arbeitslosen empfindet auch der Verdi-Vorsitzende den Kurs der Bundesregierung: „Für fünf Euro mehr im Monat bekommt man heute etwa zwei Laib Brot“, rechnet (der hauptberufliche Sparkassen-Personalrat) Wolfgang Gottschalk vor.

Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Transparenz könne er nirgends entdecken. Erst recht nicht den zusätzlichen Bedarf für schulpflichtige Kinder, wie ihn die Verfassungsrichter ausdrücklich angemahnt hätten.

Das sieht wiederum der Christdemokrat Wolfgang Heinberg ganz anders: Der CDU-Fraktions-Vize benennt als wichtigsten Reformpunkt, dass Schulkinder auf Antrag und nach Nachweis Geld für die Lernförderung erhielten sowie Gutscheine für u.a. Ausflüge, Mittagessen und den Sportverein.

Der Zuschlag von 5 Euro sei vielleicht weniger als erwartet, räumt Heinberg ein. Aber: „Die neue Regelsatzhöhe ist Ausdruck des Machbaren und nicht des Wünschenswerten.“ Das Bundesverfassungsgericht habe nicht gegen zu niedrige Sätze geurteilt, sondern gegen mangelnde Transparenz bei der Berechnung.

In der nun anstehenden Diskussion werde die Union auch in Gelsenkirchen deutlich machen, dass Hartz IV zwar ein Leben in Würde ermöglichen soll. Andererseits müsse aber auch der Anreiz bestehen bleiben, „raus aus der Transferleistung und rein in den Arbeitsmarkt zu wollen“. Wer arbeite und soziale Sicherungssysteme mitfinanziert, dürfe nicht der Dumme sein.

Hoffen auf Widerstand

Genau da liegt nach Ansicht von Sozialdezernentin Henriette Reker und IAG-Geschäftsführer Reiner Lipka ein Hauptproblem: „Die Politik muss sich Gedanken darüber machen, ob die Einkommensverhältnisse in Deutschland richtig justiert sind“, sagt der Chef des Integrationscenters für Arbeit. Wenn man dann noch Nachrichten über Boni für Banker höre, gerate man erst recht ins Grübeln. Den Ansatz, dass das IAG künftig eine Schlüsselrolle bei Verbesserung der Lebensbedingungen von unter Hartz-IV-Bedingungen lebenden Kindern erhalten soll, finde er dagegen grundsätzlich richtig. Mit dem derzeitigen Personalschlüssel sei dies aber nicht zu leisten.

Zurück zu den Regelsätzen: Über die Mini-Erhöhung könne sie „nur staunen“, sagt die Sozialdezernentin Reker. Und das geht auch Industriepfarrer Dieter Heisig so: 5 Euro mehr sei „schlicht zu wenig“. Die Begründung, dass Geringverdiener auch nicht viel mehr hätten, sei „perfide“, so Heisig. Es sei Aufgabe der Politik, dies unter anderem durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zu ändern. Die sozial Schwächsten würden gegeneinander ausgespielt - frei nach dem Motto „spalte und herrsche“. Er hoffe, dass die Betroffenen und die Gesellschaft die Kraft finden, Widerstand zu leisten.

Weitere Reaktionen aus der Politik

„Das ist eine Verfestigung von Armut“, sagt Hartz-IV-Empfänger und Grünen-Ratsherr Franz Schart. Die „Rechenkünste“ in Berlin seien erstaunlich. die Regelsätze nicht armutsfest; das sei erwiesen. Die Bundesregierung missachte aber diese Erkenntnisse und spiele Arbeitslose, Geringverdiener und Rentner gegeneinander aus.

„Das hat mich umgehauen!“ Sagt SPD-Sozialpolitiker Lutz Dworzak über die Mini-Erhöhung. Die Neuberechnung sei im Bund wohl vor allem mit Blick auf die Kasse erfolgt, kritisiert der SPD-Ratsfraktions-Vize. Dass Kinder zusätzliche Sachleistungen erhalten sollen, halte er grundsätzlich für richtig. Aber: Es sei zu befürchten, dass der Bund die Kommunen bzw. das Integrationscenter für Arbeit im Regen stehen lasse und nicht ausreichend Personal für diese Aufgabe zur Verfügung stelle.

FDP-Chef und MdB Marco Buschmann lobt dagegen die Bundesregierung: Diese habe „schnell gehandelt“ und rot-grüne Fehler bei der Regelsatzgestaltung korrigiert. Die neue Bemessungsgrundlage stehe nun auf soliden Füßen, weil sie transparent ermittelt worden sei. Und: Sie sei auch gerecht, weil sie das Lohnabstandsgebot zu Geringverdienern einhalte. Die Förderung von Kinder durch Sachleistungen sei wichtig, damit diese auch ankommen.

Soziale Unruhen als Folge der 5-Euro-Entscheidung hält Marion Strohmeier, Linke-Fraktionschefin, für denkbar. Der Beschluss bedeute eine weitere Betonierung der Armut per Gesetz. Und: Die Fraktion würde gerne von der achtfachen Mutter Ursula von der Leyen wissen, wie sie, wenn sie betroffen wäre, mit der Erhöhung leben könnte. Schließlich: Als „glatte Unverschämtheit“ bezeichnet AUF-Ratsfrau Monika Gärtner-Engel die Erhöhung: „Ein Grund mehr nicht nachzulassen im Kampf gegen Hartz IV.“