Gelsenkirchen. .
Erst das Wahlkreuz in der Kabine im Kneipen-Hinterzimmer, dann das Kreuz fürs große Pils vorne an der Theke auf dem Bierdeckel: Aus dem Wahlsonntag-Frühschoppen der besonderen Art wird am 9. Mai zur Landtagswahl nichts mehr: Gaststätten sind künftig nur noch Lokale, keine Wahllokale.
„Älteste Schankstätte am Platz - 1888“ steht über dem Eingang „Zum Dorfplatz“ am Hauptmarkt in der Altstadt: Hinter dem Stoffvorhang steht der Qualmvorhang im Rauchclub. Die Biere auf der Theke, die Knobelbecher an der Decke, die Schalke-Wimpel an der Wand und die blinkenden Spielautomaten am Pfeiler. Ja, die rauchig-derbe und gemütliche Eckkneipe, sie gibt es noch. Und über Jahre war die traditionsreiche Markt-Schankstätte auch Wahllokal, hinten im Gästeraum neben den Dart-Spielstationen nahm der Wahlvorstand Platz, wartete - von Wirtin Christina Meyer mit Kaffee und Brötchen versorgt - auf die Wähler. Die kamen ihren demokratischen Pflichten nach und manch einer begoss seine Wahl mit einem Pils, blieb zum Plausch, mitunter bis zum Abend um 18 Uhr und diskutierte an der Theke den Wahlausgang. „Das war immer schön“, sagt eine Frau am Tresen.
Das ist jetzt vorbei. Die Stadt hat in einem „Radikalschnitt“, so Gelsenkirchens Wahlorganisator Hans-Georg Nasiadek, alle 20 Gaststätten aus der Liste der 173 Wahllokale gestrichen. 20 waren es noch zuletzt. Der Grund liegt in der Luft, genauer im blauen Dunst: Nikotin darf nicht zum Nicht-Wählen führen. Denn schlimmstenfalls könnte ein Wähler sich in seinem Wahlrecht beschnitten sehen, wenn er unter Rauchwolken seine Stimme abgeben müsste. Um da erst gar nicht in die Bredouille zu kommen, hat das Wahlamt kurzerhand alle Kneipen aus dem Programm genommen.
„Schade“, sagt Wirtin Christina. Dann geh’ ich halt gar nicht mehr wählen“, scherzt ein Gast. Soweit wird’s nicht kommen, aber die Tresenchefin gesteht schon, dass da auch ein Stück Wahltradition verschwindet. „An den Wahlsonntagen war immer nett was los. Alte Freunde haben sich wiedergetroffen.“ Und gelüftet wurde auch immer - von wegen dichten Qualmwolken. Bei Bier und Frikadelle, Brötchen und Kaffee plauderte man nach dem „Urnengang“. Und jetzt? Die 52-jährige Wirtin muss zumindest nicht mehr ganz früh aufschließen, sondern erst zur sonntäglichen Kneipenzeit um 10 Uhr.