Gelsenkirchen. Die Engländer kehren bei der Fußball-EM 2024 nach Gelsenkirchen zurück. Erinnerungen an ihren Auftritt bei der WM 2006 mit 80.000 Fans.

Gelsenkirchen wurde von Glücksgöttin Fortuna geküsst: Nach der Auslosung der Vorrundengruppen für die Fußball-EM 2024 stand fest, dass die englische Nationalmannschaft beim Spiel gegen Serbien (16. Juni) in die Stadt zurückkehren wird. Da werden sofort Erinnerungen an die Heim-WM 2006 wach, als beim Viertelfinale über 80.000 Anhänger von der Insel nach Gelsenkirchen kamen, um als freudentrunkene Feierbiester die ganze Stadt friedlich zu erobern. Ein persönlicher Rückblick auf einen unvergesslichen Sport-Tag.

Fünf Partien fanden bei der WM 2006 in der Gelsenkirchener Arena statt

1. Juli 2006: ein brütend heißer Samstag in einem Rekordsommer, der Deutschland nicht nur die Gastgeberrolle bei einem Weltereignis beschert, sondern dazu auch noch das passende, makellose Wetter bereithält. Es ist Viertelfinaltag in Gelsenkirchen. Qualifiziert für die letzte von insgesamt fünf Partien, die im Turnierverlauf in der Veltins-Arena stattfinden, hat sich England dank eines 1:0-Sieges im Achtelfinale gegen Ecuador. Mit dem gleichen Resultat hatte sich auch Gegner Portugal in der Runde zuvor gegen die Niederlande durchgesetzt. England gegen Portugal also. Das klingt doch nach schönster Fußball-Tradition.

Das Viertelfinalspiel England – Portugal wurde auf der Trabrennbahn auf Großleinwänden gezeigt.
Das Viertelfinalspiel England – Portugal wurde auf der Trabrennbahn auf Großleinwänden gezeigt. © WAZ | Thomas Richter

Mein Herz hatte schon relativ früh damit begonnen, für den englischen Fußball zu pochen. Nicht nur, weil er deutlich temporeicher, energiegeladener und mitreißender war. Sondern vor allem, weil die emotionale Anhängerschaft in den Stadien und auf ihren Reisen so leidenschaftlich und sangesfreudig auftrat wie nur wenige andere weltweit. Deshalb ist es für mich auch eine Selbstverständlichkeit, an besagtem Viertelfinaltag einen Abstecher nach Gelsenkirchen zu unternehmen.

Publikumslieblinge David Beckham und Wayne Rooney

Mit dem Zug geht es also aus der Heimatstadt los in Richtung WM-Spielort. Schon am Bahnsteig stehen Hunderte in ihren roten und weißen Fantrikots. Viele von ihnen haben sich darauf den Namenszug von David Beckham oder Frank Lampard drucken lassen. Noch beliebter ist nur Wayne Rooney, jener bullige, leicht untersetzte Vollblutstürmer, der sich dank seiner Torgefahr und jugendlichen Ungestümheit in die Herzen der Fans gedribbelt hat.

Ausgelassene Stimmung auf der Bahnhofstraße: Addiert rund 80.000 englische Fans weilten am 1. Juli 2006 im WM-Spielort Gelsenkirchen.
Ausgelassene Stimmung auf der Bahnhofstraße: Addiert rund 80.000 englische Fans weilten am 1. Juli 2006 im WM-Spielort Gelsenkirchen. © WAZ | Martin Möller

Angekommen in Gelsenkirchen, platzt der Hauptbahnhof bereits aus allen Nähten. Überall liegen sich die Briten bei bester Laune in den Armen. Sie singen, hüpfen, lachen und grölen. Jeder, aber wirklich jeder, hat mindestens ein Bier in der Hand. Viele haben sich angesichts der tropischen Temperaturen für die Bekleidungsvariante „Oberkörper frei“ entschieden. Die Vorfreude auf diesen verschwitzten Fußball-Nachmittag, sie ist wirklich greifbar.

Nur ein paar Schritte weiter hat sich die Bahnhofstraße bereits in eine prall gefüllte Fan-Meile verwandelt. Viele Engländer tragen die Nationalfahne mit dem roten Georgskreuz auf weißem Grund als luftig-lockeres Gewand. Dieses Kreuz ist auch das beliebteste Motiv für die Gesichtsbemalung, auf die fast alle Briten setzen. Es herrscht unbeschwerte Volksfeststimmung. Von den im Vorfeld befürchteten Krawallen und Ausschreitungen erfreulicherweise keine Spur.

27.000 Fans auf der Trabrennbahn singen aus voller Kehle „God Save The Queen“

Eine der heiß begehrten Eintrittskarten für die Arena habe ich nicht ergattern können - im Gegensatz zu rund 38.000 Fans von der Insel. So schließe ich mich notgedrungen jener rot-weißen Riesengruppe an, die das Match beim Public Viewing auf der Trabrennbahn verfolgen will. Dort sind gleich mehrere Großleinwände aufgebaut. Und als die Nationalhymne erklingt, singen die rund 27.000 Briten mit heißen Herzen und aus voller Kehle mit: „God Save The Queen“.

Die Bierwagen sind schon beim Anpfiff derart dicht umringt, als würde dort nicht kostenpflichtige Kaltschale, sondern Gratis-Pils ausgeschenkt. Weil auch nach Spielbeginn immer noch mehr Menschen auf das Areal strömen, werden die Plätze mit guter Sicht langsam knapp. In ihrer Not erklimmen Dutzende die Dächer der Bierwagen. So werden aus den Verkaufsbuden illegale Logenplätze. Zum Glück bricht unter der Last der dort Mitfiebernden kein Stand zusammen.

Die Engländer verlieren nach Elfmeterschießen - wieder einmal

Die Fans treiben ihre Mannschaft auf der Trabrennbahn verbal unaufhörlich nach vorne, obwohl diese doch in Luftlinie zehn Kilometer Entfernung auf Torejagd geht. Doch alle Unterstützung hilft nicht. Es bleibt beim 0:0. Nach 90 Minuten. Und auch nach 120. Also Elfmeterschießen. Und das gehört für Engländer ja bekanntermaßen zu den unlösbaren Aufgaben. So auch diesmal. Drei Schützen versagen vom Punkt aus die Nerven. 1:3 verloren. Aus und vorbei der WM-Traum des ewigen Mitfavoriten. Wieder einmal.

In einer Mischung aus Trauer und Stolz stimmen die Fans trotz der Niederlage nach Spielschluss erneut ihre Nationalhymne an. Und ziehen danach zurück in Richtung Altstadt. Dort treffen sie auch auf Teile jener 15.000 englischer Fans, die das Spiel beim Public Viewing in der Glückauf-Kampfbahn verfolgt hatten. Hinzu kommen noch ein paar Dutzend, die das Rudelgucken-Angebot im Rund des Amphitheaters im Nordsternpark genutzt hatten. Sie alle feiern bis tief in die Nacht in Gelsenkirchen weiter. Und ich mittendrin. Besondere Momente, die bis heute einen festen Platz im Gedächtnis haben.

Mal sehen, ob dieser EM-Sommer wieder ähnlich viel Unvergessliches bereithalten wird...