Gelsenkirchen. Bürgergeld vs. Job: Lohnt es sich noch zu arbeiten? Bei diesen Fällen in Gelsenkirchen rechnet sich der Verdienst tatsächlich kaum.
- Lohnt sich Arbeit noch? Darüber wird in Deutschland gerade wieder heftig diskutiert.
- Schilderungen von Betrieben und Experten in Gelsenkirchen zeigen: Bei manchen Fallkonstellationen lohnt es sich tatsächlich kaum, auf Bürgergeld oder andere Leistungen im Sozialstaat zu verzichten.
- Was Dachdecker, Reiseunternehmer, das Jobcenter und die Verwaltung in Gelsenkirchen berichten und welche Probleme sie im Sozialstaat sehen.
Mike Sternkopf hat die Abrechnung vor sich liegen. Etwa 1850 Euro netto sind es. So viel springe am Ende für einen Hilfsarbeiter ohne große Qualifikationen beim normalen Stundensatz heraus, sagt der Obermeister der Dachdecker-Innung in Gelsenkirchen. „Das sind zum Beispiel Leute, die von der Haupt- oder Gesamtschule kommen, die Ausbildung abbrechen und dann bei uns landen“, sagt er. „Unterstes Lohnniveau.“ Im Betrieb aufzusteigen und sich weiterzuqualifizieren, das sei natürlich möglich, aber eben mit Anstrengung verbunden. Einfacher sei es da, die Arbeit gänzlich sein zu lassen und aufs Bürgergeld zu setzen, glaubt Sternkopf. „Wer da nicht deutlich weniger bekommt, der überlegt sich das natürlich, statt jeden Morgen pünktlich im Betrieb zu erscheinen.“
Wie sehr lohnt sich Arbeit in Deutschland noch? Die Debatte um diese Frage tobt gerade heftiger denn je. Und sie bezieht sich oft auf die Höhe des Bürgergeldes, das 2024 um zwölf Prozent steigen soll. Dabei geben die Statistiken überhaupt nicht her, dass das Lohnabstandsgebot, also die Lücke zwischen Mindestlohn und Grundsicherung, derzeit besonders hoch wäre. Der Mindestlohn ist in den vergangenen Jahren deutlicher gestiegen als die Regelsätze, wie Daten des Statistischen Bundesamts zeigen. Aber vielleicht liegen die Probleme auch gar nicht in dem bloßen Abstand zwischen Mindestlohn und Bürgergeld.
2024 bringt wieder mehr Belastung für arbeitende Bevölkerung
Mike Sternkopfs Helfer würde als Bürgergeld-Empfänger natürlich wesentlich weniger Geld bekommen. Etwa 550 Euro weniger wären es, wenn er die Baustelle meiden würde. Aber er müsste sich auch keine Gedanken darüber machen, wie das mit den (vom Jobcenter übernommenen) Heizkosten aussieht oder ob er sich ein Auto finanzieren soll, um bestmöglich zur Arbeit zu kommen – es sind nur zwei Bereiche, in denen es in Deutschland ab 2024 wieder deutlich teurer wird. Die Bundesregierung hat sich im Zuge ihres Haushaltsstreits auf einen höheren CO₂-Preis geeinigt. Wer die Heizkosten selber zahlen und ein Auto betanken muss, ist gekniffen. Ergo wird der Lohnabstand zwischen der arbeitenden und nicht arbeitenden Bevölkerung in der Realität doch kleiner.
Der gutverdienende Geselle und der Meister, die könnten die allgegenwärtige Teuerung verkraften, sagt Mike Sternkopf. Bei ihnen sei der Lohnabstand zum Hilfeempfänger weiter deutlich. Aber gerade für die Geringqualifizierten, gerade für die Menschen im Niedriglohnbereich, stelle sich doch die Frage: Lohnt er sich überhaupt, der Einstieg in den Arbeitsmarkt? Es ist für eine Stadt wie Gelsenkirchen eine virulente Frage. Denn hier gibt es besonders viele Langzeitarbeitslose mit geringer Berufserfahrung. Und viele Menschen mit geringer Qualifikation.
Im Jobcenter Gelsenkirchen, dort wo man mit diesen Menschen direkt zu tun hat, gilt eine einfache Formel: Je größer die Bedarfsgemeinschaft ist, also die leistungsberechtigte Familie, umso höher ist der Anspruch beim Bürgergeld. Je geringer aber wiederum die Qualifikation der Familienmitglieder ist, die arbeitsfähig wären, umso weniger lohnt es sich für sie, überhaupt einen Job anzunehmen und aufs Bürgergeld für sich und die Familie zu verzichten. Denn wer schlecht qualifiziert ist oder kaum Berufserfahrung hat, den verschlage es meist in den Niedriglohnbereich. „Arbeit muss sich immer lohnen, das ist klar. Aber bei manchen Konstellationen stellt sich die Frage, ob überhaupt so viel Netto verdient werden kann, wie jemand für sich und seine Familie an Bürgergeld bekommen würde“, sagt Jobcenter-Geschäftsführerin Anke Schürmann-Rupp.
In der Konsequenz ist es dann zum Beispiel die vierköpfige Familie mit bildungsfernen Eltern, die nur schwer aus dem Bürgergeld herauskommt – und für die es sich gleichzeitig am auch am wenigsten rechnet. Das weiß auch Uli Nickel, Geschäftsführer vom gleichnamigen Reisedienst..
Gelsenkirchen: Es gibt nicht nur Probleme beim Bürgergeld
Viele seiner Fahrer hätten große Familien, vier bis fünf Kinder. „So jemand geht mit 3500 Euro Brutto nach Hause und versorgt damit sechs bis sieben Leute.“ Der Online-Bürgergeld-Rechner des Caritasverbandes berechnet bei vier Kindern und einer Durchschnittsmiete dagegen einen fast genauso hohen Bürgergeld-Anspruch (übernommene Kosten für Miete und Heizen mitberücksichtigt). Während beim Bürgergeld das Kindergeld angerechnet wird, kann der Fahrer von Nickel das Kindergeld für seine vier Kinder natürlich behalten. Er hat aber natürlich auch wesentlich mehr Kosten zu tragen – die Betreuungskosten für die Kinder zum Beispiel, oder sonstige Heiz- und Nebenkosten. Und da sind natürlich noch die hohen Sozialabgaben und Steuern. „Der Staat schröpft die Bürger so sehr über seine Abgaben, dass diese trotz vernünftigen Bruttoeinkommens ihre Existenz nicht mehr sichern können“, konstatiert Uli Nickel deshalb für seine Belegschaft.
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Um es Haushalten mit einem geringen Einkommen einfacher zu machen, hatte die Bundesregierung Anfang 2023 eigentlich den Berechtigtenkreis von Wohngeldempfängern deutlich erweitert. Ein Nickel-Fahrer könnte als Alleinverdiener der Familie also prüfen, ob er berechtigt wäre, Wohngeld in Anspruch zu nehmen. Bei einem Sechs-Personen-Haushalt beträgt die Einkommensgrenze immerhin 4137 Euro in einer Stadt wie Gelsenkirchen. Nur hat sich der deutsche Sozialstaat damit auch ein Problem geschaffen, über das sich Nickel-Prokurist Holger Machnik jüngst im „Spiegel“ ausgelassen hat.
Gelsenkirchens Sozialdezernentin: „Das ist eine der großen Herausforderungen des Sozialstaates“
Dort schilderte Machnik, dass zuletzt zwei Fahrer auf ihn zugekommen seien, um ihre Arbeitszeit von 167 auf 120 Stunden zu reduzieren. Durch die Erhöhung des Wohngeldes hätte sich bei den Kollegen trotz Reduzierung der Arbeitszeit kein geringeres Gehalt ergeben. „Wir haben jetzt für Januar die nächste Lohnerhöhung angesetzt. Ich habe die Angst, dass dann weitere Beschäftigte sagen, dass sie ihre Arbeitszeit reduzieren wollen“, sagt Machnik auch der WAZ. Von anderen Unternehmen aus seiner Branche seien ihm ähnliche Sorgen geschildert worden.
In anderen Fällen können Wohngeld und Kinderzuschlag bedeuten, dass Arbeitgeber schwer durchsetzen können, Beschäftigte von der Teilzeit in die Vollbeschäftigung zu bringen, weil sie sonst ihre Ansprüche auf die Sozialleistungen verlieren würden. Es kann sich im deutschen Sozialstaat also tatsächlich finanziell lohnen, weniger statt mehr zu arbeiten – und das in Zeiten des immer schlimmer werdenden Fachkräftemangels.
Es gibt also nicht nur Probleme, bestimme Bevölkerungsgruppen wie bildungsferne Großfamilien aus dem Bürgergeld zu locken; der Sozialstaat setzt durchaus auch weniger Anreize für die Arbeitswilligen, sich noch mehr zu engagieren. Es ist eine Gemengelage, die auch Gelsenkirchens Arbeits- und Sozialdezernentin Andrea Henze gegenwärtig schwer beschäftigt: „Natürlich sind Sozialleistungen ein elementarer Bestandteil unseres Sozialstaates. Und es ist gut, dass es das Bürgergeld für Menschen gibt, die aufgrund besonderer Lebensumstände die Solidarität unserer Gemeinschaft benötigen“, sagt sie. „Aber mich beschäftigt es sehr, wenn jemand bewusst Sozialleistungen bezieht. Motivation und Anreize werden im jetzigen System noch nicht hinreichend berücksichtigt, hier brauchen die Jobcenter noch mehr Instrumente. Das ist eine der großen Herausforderungen des Sozialstaates.“