Gelsenkirchen. Bekommen größere Investoren den Vorzug in Gelsenkirchen? Mittelständler erheben diese Vorwürfe. Sie warten seit Jahren auf einen Straßenausbau.

Misst die Stadt Gelsenkirchen mit zweierlei Maß? Bekommen größere weil finanzstärkere Investoren eine Vorzugsbehandlung? Diese Vorwürfe erheben Anlieger des Gewerbegebietes Europastraße – einem echten Vorzeigeprojekt in Sachen Revitalisierung ehemaliger Industrieflächen.

„Ich habe wirklich ein Gemüt wie ein ungarischer Hirtenhund, aber was zu viel ist, ist zu viel“, sagt Norbert Gelleschun. Zu viel sind ihm und einer Reihe von weiteren Anliegern „mittlerweile elf Jahre Wartezeit für den Endausbau der Wanner Straße 170 und folgende“, eine kleine Stichstraße im Gewerbegebiet Europastraße – „Nr. 353.2 - Planstraße C“ amtlich genannt.

Konkret handelt es sich um die Zufahrtsstraße in das prosperierende Gewerbegebiet (u.a. mit Bilstein Group, Wheels Logistic, ProReserve, Navahoo) zwischen den beiden Torhäusern des ehemaligen „Schalker Vereins – Tor 1“, zu erreichen über die Wanner Straße in Bulmke. Die Anlieger sind Betreiber von Lagerhallen, Kfz-Werkstätten, Reisebusunternehmen, Bauunternehmungen oder einer Kfz-Prüfstelle, also alles kleine mittelständische Unternehmer. Worüber sich die Gewerbetreibenden aufregen?

Gewerbegebiet in Gelsenkirchen: Große Areale an Europastraße längst hergerichtet

„Diese Straße ist immer noch nur eine Baustraße. Der Endausbau fehlt seit elf Jahren. Und das, obwohl er längst bezahlt worden ist“, sagen Norbert Gelleschun und Ferhat Cobanoglou. Gelleschun ist Zahnarzt, betreibt vor Ort eine Lagerhalle für Autos, Ingenieur und Kfz-Meister Cobanoglu ist Chef der amtlichen Prüfstelle an der Baustraße, die in einem Wendekreis mit auffälligem Kunstwerk endet.

Mit Baustraße gemeint ist, dass zwar Kanalisation und Beleuchtung (seit Frühjahr 2021) und eine erste grobe Asphaltschicht vorhanden sind, es fehlen aber die eingeplanten Gehwege, Bordsteine, Absenkungen für die Firmeneinfahrten (derzeit nur Provisorien in Eigenleistung laut Anlieger) und die oberste Deckschicht. Folge: eine unebene Buckelpiste, in deren Senken Matsch und Laub zuhauf liegen.

Nur einen Steinwurf weiter, gegenüber an der Planstraße F, die die Baustraße durch Fußgängerweg und Kriegerdenkmal unter Bäumen trennt, sieht es ganz anders aus. Auf dem Gegenstück ziehen Arbeiter gerade mächtige Gewerbehallen hoch, Straßen und Gehwege sind aber schon längst komplett fertiggestellt – alles blitzblank. Ähnliches gilt erst recht für die umliegenden großen Areale, an denen sich die eingangs erwähnten Großbetriebe angesiedelt haben. Woraus die Anlieger schließen: „Wo mehr Geld ist, macht die Stadt anscheinend mehr möglich.“

Kuriosum: Gelsenkirchener Verwaltung will Erschließungskosten ein zweites Mal erheben

Hier zwischen den beiden Torhäusern des ehemaligen Schalker Vereins führt eine Baustraße zu den Gewerbebetrieben an der Wanner Straße 170 und folgende. Die Mittelständler beklagen sich darüber, dass die Straße trotz bezahlter Kosten seit elf Jahren nicht fertiggestellt worden ist.
Hier zwischen den beiden Torhäusern des ehemaligen Schalker Vereins führt eine Baustraße zu den Gewerbebetrieben an der Wanner Straße 170 und folgende. Die Mittelständler beklagen sich darüber, dass die Straße trotz bezahlter Kosten seit elf Jahren nicht fertiggestellt worden ist. © Foto: Nikos Kimerlis

Bereits am 27. September 2012 wurden nach Angaben der Anlieger die Kosten für alle Erschließungsmaßnahmen der dort anliegenden Grundstücke inklusive Straße, Wasser, Kanal und Strom vom damaligen Eigentümer, der „PAM Saint-Gobain GmbH“, an die Stadt gezahlt. Es handelte sich ihnen zufolge um „einen Betrag in Höhe von 250.000 Euro“, der mit der Stadt verrechnet worden sei, als die Flächen an die Mittelständler verkauft wurden. Zu dem Vorgang bestehe ein notarieller Vertrag, Kopien mit einem entsprechenden Passus sollen das belegen.

Saint-Gobain hat die Angaben bestätigt. Sprecher Michael Wenger: „Die Stadt Gelsenkirchen ist für den Bau dieser Straße einschließlich Endstufenausbau verantwortlich, sie darf von den Anliegern keine Erschließungskosten verlangen.“

Bereits fünf Jahre nach den Verkäufen, also im Jahr 2017, der Schriftverkehr liegt dieser Redaktion vor, wollte die Stadt von diesem Vorgang aber nichts mehr wissen. Im Gegenteil, sie kündigte an, erneut Erschließungskosten erheben zu wollen. „Erst die Androhung einer Auskunftsklage“, erzählt Gelleschun, habe die Stadt bewogen, in den Vertrag vom 27. September 2012 zu schauen und die Anlieger von den erneuten Ausbaukosten freizusprechen. Auch das Schreiben liegt vor. Aber: Sechs weitere Jahre ist offenbar immer noch nichts passiert.

Anlieger in Gelsenkirchen sauer: Übernehmen die Straßenreinigung seit Jahren selbst

Dieses Kunstwerk steht im Wendekreis der Baustraße an der Wanner Straße. Im Hintergrund, an der Planstraße F, werden jetzt Gewerbehallen hochgezogen. Die Straßen und Gehwege waren aber bereits vorher fertig.
Dieses Kunstwerk steht im Wendekreis der Baustraße an der Wanner Straße. Im Hintergrund, an der Planstraße F, werden jetzt Gewerbehallen hochgezogen. Die Straßen und Gehwege waren aber bereits vorher fertig. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Norbert Gelleschun und Ferhat Cobanoglou bringt die schier endlose Warterei auf die Palme. Denn der Status Baustraße zeigt ihnen zufolge Nebenwirkungen: „Es gibt keine Straßenreinigung, nur die Müllabfuhr kommt vorbei. Die Abflüsse sind durch Matsch und Laub verstopft und das Regenwasser fließt nicht ab. Es sucht sich irgendwo seinen Weg. Wir als Anlieger fegen selbst die Straße sauber, schaufeln sie von Schnee frei und beseitigen die Blätter der städtischen Bäume aus dem Umfeld des Kriegerdenkmals. Und das alles, damit Erreichbarkeit für unsere Kundschaft weiter bestehen bleibt.“

Pikantes Detail in dem Zusammenhang: Durch die sogenannte „Hinterlieger-Regelung“ zahlen die Mittelständler bereits seit Jahren Straßenreinigungsgebühren. Aber nur für die quer zu ihrer Stichstraße verlaufende ältere Wanner Straße, nicht für die Baustraße gleichen Namens.

Ganz zu schweigen von der Parksituation: Durch die angrenzende Hochschule (HSPV) und den ohnehin vorhanden Parkdruck im Umfeld wird den Anliegern zufolge die Straße und der Wendekreis regelmäßig zugeparkt. Beispielsweise können Lkw dann die amtliche Prüfstelle (KÜS) nicht anfahren, parkende Autos versperren diese und andere Einfahrten. Aber: Durch den Status als Baustraße – so die Beschwerde – lasse sich nicht die StVO anwenden und Verstöße ahnden. Cobanoglou: „Es reagiert keiner, ich muss hier im Zweifelsfall selbst den Ordnungsdienst spielen und Autos abschleppen lassen, die meine Einfahrt versperren.

Die Anwohner wollen nun endlich wissen, was Sache ist – wann die Straße fertiggestellt wird und welche Gründe es für den „irre langen Verzug“ gegeben hat. In einem Antwortschreiben hatte die Stadt dies mit „zuwendungstechnischen Gründen“ begründet, dies aber nicht näher erläutert.

Stadt Gelsenkirchen: Endausbau der Wanner Straße im Frühjahr 2024

An der Wanner Straße in Gelsenkirchen haben sich Mittelständler in einer Stichstraße angesiedelt, viele haben neue Gewerbehallen gebaut oder alte erweitert. Doch nicht jede Ecke ist ein Hingucker.
An der Wanner Straße in Gelsenkirchen haben sich Mittelständler in einer Stichstraße angesiedelt, viele haben neue Gewerbehallen gebaut oder alte erweitert. Doch nicht jede Ecke ist ein Hingucker. © Foto: Nikos Kimerlis

Stadtsprecher Martin Schulmann kündigte an, dass „der Endausbau der Planstraße C für dieses Jahr und die Umsetzung für das Frühjahr 2024 vorgesehen ist.“ Als Begründung gab Schulmann an, dass „die Stadt einen Endausbau einer Straße möglichst erst dann durchführt, wenn die Hochbaumaßnahmen im Bereich der Baustraße abgeschlossen sind.“ Hierdurch sollen Beschädigungen an der Straße vermieden werden.

Die unterschiedlichen Fertigstellungstermine der Straßen im Gewerbegebiet erklärte der Sprecher damit, dass „Zuwendungen des Landes bis zu einem vorgegebenen Zeitpunkt ausgegeben werden“. Daher seien Baumaßnahmen, die vom Land bezuschusst werden, rechtzeitig auszuführen, wenn man nicht auf Geld verzichten wolle.

Die Anlieger machen die Antworten fassungslos. Die Mittelständler sagen: „Das Argument mit der Fertigstellung der Hochbauten hören wir seit Jahren. Es ist sachlich schlichtweg falsch. Erstens haben wir im Vergleich zu dem, was ansonsten im Gewerbegebiet gebaut wurde und noch gebaut wird, Gebäude im Kleinstformat errichtet. Zweitens wurden an den anderen Gewerbeflächen zuerst die Straßen gebaut und dann die riesigen Gebäude errichtet. Beschädigungen sind nicht bekannt. Und drittens sind wir bereits seit Jahren fertig.“

Gelleschun und Cobanoglou: „Auch die Anlieger der Planstraße C haben nicht auf Geld verzichtet. Im Gegenteil, sie haben sogar im Vertrauen vorab gezahlt. Für ihre Zuwendungen haben sie aber von der Stadt seit elf Jahren schlichtweg nichts erhalten.“