Gelsenkirchen. Bestseller-Autor Aladin El-Mafaalani hat in Gelsenkirchen eine düstere Zukunftsprognose abgegeben. Motivieren konnte er trotzdem.
- Prof. Aladin El-Mafaalani, Soziologe, Bildungsexperte und Bestseller-Autor, war im Rahmen der Reihe „Talente treffen“ im NRW-Talentzentrum Gelsenkirchen zu Gast.
- Dort wagte er eine düstere Zukunftsprognose mit Blick auf die Bildungs- und Kinderpolitik: „Dieses Jahrzehnt ist verloren“, sagte er.
- Warum er die anwesenden Jugendlichen trotzdem motivieren konnte und warum er trotz gesellschaftlicher Probleme individuelle Chancen sieht:
Als „verdienstvoller Brückenbauer in unserem vielfältigen Land“ wurde Aladin El-Mafaalani erst vor wenigen Tagen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Es ist nicht so, als hätte der Verdienstorden den Soziologen und Autoren bekannter „Gute-Laune-Bücher“ (der Spiegel) wie „Das Integrationsparadox“ zahmer, in der Wortwahl staatstragender gemacht: „Dieses Jahrzehnt ist nicht mehr zu retten“, schmetterte der Professor mit Blick auf die Kinder- und Bildungspolitik grausige Botschaften in den Saal des Talentzentrums NRW in Gelsenkirchen-Ückendorf – um anschließend wieder Motivationsappelle an die anwesenden, rund 100 jungen Talente zu richten.
Doch erst einmal zum Negativen. Schon jetzt werde kaum Politik für die Jugend gemacht, sagte der Bildungsforscher. Da seien die offensichtlichen Defizite an den schlecht digitalisierten, von Lehrermangel betroffenen sowie schlecht auf eine multikulturelle Schülerschaft eingestellten Schulen. Und in der Pandemie seien die Kinder ohnehin völlig vernachlässigt worden – nicht untypisch für Gesellschaften, die so alt sind wie Deutschland. „Je älter die Leute sind, umso weniger wird an die Kinder gedacht.“ Dies sei ein Zustand, der angesichts der bevorstehenden Babyboomer-Rentenwelle und des immer weiter steigenden Durchschnittsalters von Wahlberechtigten in den nächsten Jahren nur noch schlimmer werde.
El-Mafaalani: „Das Potenzial für Generationenkonflikte war noch nie so groß“
Aber Großeltern haben doch oft auch Enkel – wollen die Älteren da nicht, dass auch für die jüngere Generation gute Gesetze gemacht werden? „Jeder Mann hat eine Mutter. Aber das hat Jahrhunderte lang nicht dazu geführt, dass sich Männer für Frauenrechte einsetzen“, zog der Bildungsexperte einen Vergleich. Eine Ich-Bezogenheit bei den politischen Überzeugungen sei also vollkommen normal. Die Konsequenz: Es werde für die Jugend in den nächsten Jahren noch viel schwieriger, ihre Interessen durchzusetzen, wenn Deutschland mehr und mehr zur Rentnerrepublik mutiert. Deswegen müsse man sich anstrengen, möglichst noch jetzt positive Rahmenbedingungen zu setzen. „Das Zeitfenster ist sehr klein.“
Eine wichtiges „in die Zukunft gerichtetes Signal“ wäre für El-Mafaalani allem voran ein Sondervermögen Bildung, das er auch im Interview zum Schwerpunkt „Bildungskatastrophe“ der WAZ Gelsenkirchen im September vorgeschlagen hatte. Auch die oppositionelle Linksfraktion im Bundestag machte zuletzt einen solchen Vorschlag, der jedoch von den anderen Fraktionen erwartbar abgeschmettert wurde. Sind 100 Milliarden für den Bildungssektor also nicht viel eher die Traumvorstellung eines Mannes, der angibt eigentlich „keine Luftschlösser“ bauen zu wollen? „Ich halte 100 Milliarden für realistisch“, betonte El-Mafaalani und stützte sich auf Gespräche mit verschiedenen Wirtschaftsinstituten.
Düster bleibt die Zukunftsprognose des 45-Jährigen ohnehin – Sondervermögen hin oder her. Denn die Diskussionen in Deutschland würden eben äußerst kompliziert, weil die Jungen, die den Laden am Laufen halten, nicht nur eine so kleine, sondern auch eine so diverse Gruppe mit unterschiedlichsten Migrationshintergründen und Interessen seien, aber die Renten einer viel größeren, jedoch viel weniger diversen Gruppe finanzieren müssten. „Ich sage nicht, dass es automatisch zu Generationenkonflikten kommen wird“, so der Osnabrücker Professor, „aber das Potenzial war noch nie so groß.“
Die 20er: gesellschaftlich herausfordernd, individuell die beste Zeit denn je?
Dazu komme, dass Fachkräfte fehlen, die Infrastruktur marode ist. „Und wir haben eine Bevölkerung, die schon mit dem Zustand, wie es jetzt ist, überfordert ist“, sagte El-Mafaalani und bezog sich auf die derzeit schlechte Stimmung in Deutschland. Wie man bei dieser Zustandsbeschreibung noch optimistisch sein kann? Der in Recklinghausen aufgewachsene El-Mafaalani hat den Optimismus, mit dem er jahrelang charakterisiert wurde, nicht vollends verloren. Denn auch wenn das nächste Jahrzehnt gesellschaftlich extrem herausfordernd sei – individuell müsse es nichts Schlechtes für junge Menschen bedeuten.
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„Ihr alle werdet einen respektablen Platz am Tisch der Gesellschaft bekommen“, sagte El-Mafaalani zu den anwesenden Jugendlichen, von denen die meisten durch das Talentzentrum gefördert werden. In seiner Jugend sei die Jugendarbeitslosigkeit eine große Baustelle gewesen, den Kopf habe man sich darüber zerbrochen, was man studieren muss, um anschließend einen guten Job zu bekommen. „Heute ist es völlig egal, was du machst, ob eine Ausbildung oder ein Studium: Du wirst einen Job bekommen.“ Schließlich würden so viele geburtenstarke Jahrgänge in Rente gehen, da hätte der Nachwuchs quasi die Qual der Wahl bei der Berufswahl.
„Das ist eure Chance“, motivierte der Bundesverdienstordenträger. „Es gibt für euch keine bessere Zeit als jetzt.“