Gelsenkirchen. Drohen Gelsenkirchen mit der geplanten EU-Aufnahme von Ländern wie Kosovo und Serbien weitere Probleme? Das sagt ein Experte.

Städte wie Gelsenkirchen haben durch die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit von Rumänien und Bulgarien viele negative Konsequenzen erfahren müssen. Wie ist es aus Sicht solcher Städte zu bewerten, wenn sechs weitere Balkan-Staaten der EU beitreten sollen und sich deren Staatsbürger langfristig dann auch frei auf dem hiesigen Arbeitsmarkt bewegen dürften? Drei Fragen an Prof. Ulf Brunnbauer, Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg.

Der EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien hat die Gelsenkirchener Gesellschaft spürbar verändert und zahlreiche Herausforderungen mit sich gebracht. In Städten wie Gelsenkirchen wird deshalb besonders skeptisch auf die Pläne geschaut, mit Serbien, Kosovo, Albanien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Nordmazedonien sechs weitere Westbalkan-Staaten in die Staatengemeinschaft aufzunehmen. Sind das irrationale oder begründete Ängste?

Ich würde die Ängste nicht teilen. Die sogenannte Armutsmigration in den Ruhrpott ist eine sehr spezifische Entwicklung gewesen, ich gehe nicht davon aus, dass sich das wiederholt. Natürlich kann ich mit der Prognose auch falschliegen, aber wenn man auf die bisherigen Migrationsströme aus den Ländern schaut, halte ich so eine Entwicklung nicht für besonders plausibel. Die Frage ist, wie groß das Auswanderungspotenzial dort überhaupt noch ist. Alle sechs Staaten haben in den vergangenen Jahren bereits eine umfangreiche Auswanderung erfahren, gefördert durch die sogenannte Westbalkan-Regelung, die geschaffen wurde, um legale Einwanderung nach Deutschland zu ermöglichen. Wer unbedingt auswandern wollte, hat das also vermutlich bereits getan. Die Länder haben deswegen eher das Problem, dass ihr lokaler Arbeitsmarkt fast leer gefegt ist. Zudem ist die Bevölkerungszusammensetzung in den Westbalkan-Staaten eine andere als in Rumänien und Bulgarien.

Dennoch leben auch in Serbien, Albanien oder Nordmazedonien viele Roma, die ja einen großen Teil der südosteuropäischen Migranten in Gelsenkirchen ausmachen. Werden die Roma in den Westbalkan-Staaten besser behandelt als in Rumänien und Bulgarien und haben deswegen vermutlich auch einen geringeren Drang, die Länder bei Möglichkeit zu verlassen?

Das ist schwer zu generalisieren, weil die Roma-Gesellschaften so vielfältig sind. Aber historisch ist der Grad der Integration der Roma in den Westbalkan-Ländern definitiv höher, ja. Man darf die Auswanderung aber auch nicht zu sehr auf das Roma-Thema reduzieren. Natürlich müsste die EU beim Beitrittsprozess dafür sorgen, dass man die Situation diskriminierter Minderheiten stärker adressiert, aber tatsächlich müsste man soziale Fragen insgesamt dabei mehr gewichten. Wo sind die sozialen Notlagen, die Menschen veranlassen ihre Länder zu verlassen? Das ist eine Frage, die im Vordergrund des Beitrittsprozesses stehen sollte.

Wie ist der angepeilte Beitritt der sechs Westbalken-Staaten zur EU denn grundsätzlich zu bewerten?

Für Europa ist es sehr wichtig, dass die sechs Länder beitreten – nicht nur aufgrund des wachsenden Einflusses von Moskau und China in der Region, sondern auch, um keine schwarzen Löcher mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit entstehen zu lassen. Der Beitrittsprozess wirkt ja als Hebel für politische Reformen, aber nur, sofern es eine realistische Beitrittsperspektive gibt. Er würde nicht nur für wirtschaftliches Wachstum in der Region sorgen, sondern auch die Verhältnisse vor Ort grundsätzlich verändern – hinsichtlich der Korruption, der löchrigen Staatsstrukturen. Es kann nur im Interesse der EU liegen, die Strukturentwicklung dort voranzutreiben.

Mehr zum Thema Rumänen und Bulgaren in Gelsenkirchen erfahren Sie im großen WAZ-Schwerpunkt: Etwa 10.000 Bulgaren und Rumänen leben in Gelsenkirchen zumeist friedlich mit ihren Nachbarn, doch allzu oft gibt es auch Probleme. Ein Dossier.