Gelsenkirchen. Können Kitas die Bildungskatastrophe noch abwenden? Es bräuchte jedenfalls noch viel mehr davon. Diese Ideen haben zwei Expertinnen.
Frühkindliche Bildung und Erziehung ist in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden – sie legt den Grundstein für eine gelingende Schulkarriere und mehr noch: für eine (hoffentlich) gute berufliche Zukunft. Doch was, wenn genau dieses Angebot der frühkindlichen Bildung gar nicht genutzt wird? Gelsenkirchens städtischer Kita-Träger Gekita hat reagiert – und beispielsweise schon vor Jahren die Kita-Einstieg-Gruppen und die „Erdmännchen-Gruppen“ für Vorschulkinder ohne Kindergartenplatz ins Leben gerufen. Solche Gruppen gibt es in der Altstadt, in Schalke, Schalke-Nord, Bulmke, aber auch im Norden der Stadt, etwa in Horst und Erle. Ein Gespräch mit Hülya Ulrike Eroglu (Leiterin der Kita-Einstieg-Gruppen) und Karin Broekmann (Leiterin des Fachbereichs Sprachförderung und Sprachbildung bei Gekita und Initiatorin der „Erdmännchen-Gruppen“) über ihre Arbeit und die Herausforderungen und den Zustand des Bildungssystems.
Alles auf Anfang: Wie kam es zu der Idee, die Kita-Einstieg-Familiengruppen in Gelsenkirchen zu installieren?
Hülya Ulrike Eroglu: 2015/16 gab es durch die große Zuwanderungswelle einen sehr hohen Bedarf an Kita-Plätzen. Die Herausforderung wurde schnell gesehen: Wir müssen Familien früh erreichen, um den Kindern gute Bildungschancen zu ermöglichen. Nun bereiten wir die Familien schon früh auf die Kita vor. In Gelsenkirchen gibt es schon sehr lange positive Erfahrungen mit Mutter-Kind-Gruppen – so kam es zu den Kita-Einstieg-Gruppen. In diesen Gruppen lernen die Bezugspersonen des Kindes mit dem Kind zusammen Spiele, Lieder und den Kita-Alltag kennen, die Familien erhalten niederschwellige Unterstützung in ihrem Erziehungsverhalten. Die Sprachförderung ist dabei ein großer Schwerpunkt.
Und doch gibt es immer noch unversorgte Kinder. Im September des vergangenen Jahres hatten beispielsweise rund 200 Vorschulkinder noch nie eine Kindertagesstätte von innen gesehen. Warum nutzen einige Eltern das Kita-Angebot nicht?
Hülya Ulrike Eroglu: Das kann ich so nicht bestätigen. Allgemein wird das Angebot der Einstieg-Gruppen sehr gut angenommen. In manchen Herkunftsländern gibt es ein anderes Bildungssystem und in manchen Ländern noch überhaupt kein Kita-System. Das heißt: Manche Familien haben noch keinen Kindergarten kennengelernt. Erziehung und Bildung gehört dann bis zum Schuleintritt vollständig in die Hände der Familie. Ich kenne das aus meiner türkischen Community. Das war in den 80er Jahren nicht anders. Auch hier hat sich das Vertrauen in das Bildungssystem Kita erst noch entwickeln müssen.
Karin Broekmann: Vielfach haben zugewanderte Familien einen ganz anderen Familienbegriff. Da sind noch andere Familienmitglieder, größere Geschwister – warum soll ich mein Kind dann in die Kita bringen? Und noch ein Punkt: Für viele Menschen ist das ja überhaupt gar nicht klar, dass Kinder in der Kita gerade beim freien Spielen lernen und sich weiterentwickeln.
Hülya Ulrike Eroglu: Wenn ich Kinder frage: „Was möchtet ihr spielen?“ ist das doch schon der erste Teil von Partizipation.
- Dieser Text ist Teil des Online-Dossiers „Bildungskatastrophe: So steht es um unser Schulsystem“ der WAZ Gelsenkirchen. Alle Analysen, Berichte und Reportagen zum Thema finden Sie hier!
Das machen sie ja unter anderem auch in ihren Kita-Einstieg-Gruppen, wenn sie die Familien über Haustürbesuche erreichen wollen. Sind Sie erfolgreich?
Hülya Ulrike Eroglu: Ja, denn schon an der Haustür bekommen wir positive Rückmeldungen und Zusagen für die Teilnahme an den Familiengruppen. Zum neuen Kindergartenjahr können wir auch dank der Integrationsbegleiterinnen nun 20 Kita-Einstieg-Gruppen anbieten. Im vergangenen Kindergartenjahr waren es noch zwölf. Langfristig ist es unser Ziel, in jeder städtischen Tageseinrichtung für Kinder mindestens eine Kita-Einstieg-Gruppe zu installieren.
Karin Broekmann: In Gelsenkirchen wird schon viel getan, es reicht aber nicht. Dahinter steckt die Frage: Wer ist eigentlich für Kinder zuständig, die nicht in der Kita angemeldet sind, weil die Familien es aus unterschiedlichsten Gründen nicht wissen? Es gibt keine Kitapflicht und Integration ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Wenn ich will, dass Integration gelingt, dann muss ich investieren. Alles Geld, das jetzt nicht investiert wird, bringt Folgekosten.
Also Ärmel hochkrempeln und mehr tun? Sehen Sie das Bildungssystem aufgrund der hohen Belastungen dann vor dem Kollaps?
Karin Broekmann: Gelsenkirchen ist doppelt und dreifach herausgefordert und mittlerweile auch belastet. Die Herausforderungen an Kitas sind in den letzten Jahren ständig gestiegen: Kitas sind oft der erste Ort, an dem Familien Kontakt zum öffentlichen Bildungssystem, Beratung und Unterstützung erhalten. Die Kitas in Gelsenkirchen leisten mit zusätzlichen Angeboten gute und erfolgreiche Arbeit. Die Rahmenbedingungen, Ausstattung und Finanzierung reichen jedoch nicht aus. Mehr Bedarfe erfordern auch mehr Ausstattung.
Was fordern Sie dann?
Karin Broekmann: Eine generelle Reform des Bildungssystems beziehungsweise des Kinderbildungsgesetzes. Das ist jedoch eine sehr langfristige Aufgabe. Für uns geht es darum, immer wieder neue Wege zu gehen, um Familien so früh wie möglich an das Bildungssystem heranzuführen.
Hülya Ulrike Eroglu: Das Ziel, alle Familien zu erreichen, gelingt durch eine frühe Ansprache. Je jünger die Kinder sind, desto leichter ist der Erwerb der deutschen Sprache. Außerdem ist eine wertschätzende Haltung gegenüber Vielfalt der Familien grundlegend wichtig. Dann fühlen sich Menschen angenommen.
Welche Probleme sehen Sie noch?
Karin Broekmann: Die bürokratischen Hürden. Es gibt gut ausgebildete, zugewanderte Menschen in dieser Stadt. Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse ist zu langwierig. Auf der anderen Seite fehlen in Kitas und Schulen Fachkräfte. Ein weiteres Beispiel: Das Land stellt den Kommunen Gelder für niederschwellige, präventive Angebote für Familien zur Verfügung. Diese sollen von pädagogischen Fachkräften durchgeführt werden. Niederschwellig bedeutet aber auch: Wir brauchen Menschen mit Kenntnissen der kulturellen Hintergründe und der Sprachen, die uns bei den Angeboten unterstützen können. Leider wird das jedoch nicht finanziell gefördert.
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Hülya Ulrike Eroglu: Mütter und Väter in den Familiengruppen melden mir zurück, dass sie auch von den Gesprächen profitieren. Außerdem wirken sich die Begegnungen mit anderen Familien positiv aus. Ich wünschte mir noch mehr Begegnung zwischen den Kulturen in unserer Stadt. Begegnungen schaffen, um Verständnis füreinander zu entwickeln, Gesprächsanlässe ermöglichen, um Sprachkenntnisse zu verbessern – das sind Angebote, die nötig sind.