Gelsenkirchen. Gelsenkirchen: Ein junger Intensivtäter wird zu einer Haftstrafe verurteilt und kommt wegen eines zweifelhaften Dokuments wieder frei – vorerst.
Vor einigen Wochen meldete sich eine besorgte Frau in der Redaktion, die so nüchtern wie ernst beschrieb, dass sie den Glauben an das deutsche Rechtssystem zu verlieren drohe. Ruhig und vorurteilsfrei berichtete sie von einem jungen, gewalttätigen Syrer, den seine Mitschüler fürchteten. Einem Jugendlichen, der schon so viele und so schwere Straftaten begangen hat, dass er zu einer Jugendhaftstrafe verurteilt wurde. Doch statt im Gefängnis zu sitzen, treibt Hussein* aufgrund eines plötzlich aufgetauchten syrischen Dokuments weiter sein Unwesen auf Gelsenkirchens Straßen. „Wie ist das möglich?“, fragte die besorgte Frau.
Wochenlang versuchte die WAZ Gelsenkirchen Antworten zu bekommen und stieß bei Gericht, der Polizei, dem Innen- und Justizministerium gegen eine Mauer des Schweigens. „Wir bitten Sie um Verständnis, dass wir zu dem angefragten Sachverhalt, der nach Ihren Angaben einen Minderjährigen und möglicherweise sogar noch strafunmündigen Jungen betrifft, keine Stellungnahme abgeben werden“, erklärten alle staatlichen Stellen etwa im selben Wortlaut. Denn Husseins Geschichte ist verzwickt.
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Im Kern geht es um die Frage, ob der junge Syrer, der in Gelsenkirchen lebt, strafmündig ist oder nicht. Nach WAZ-Informationen wurde Hussein Anfang Februar festgenommen und in ein Jugendgefängnis überführt. Ihm werden eine ganze Reihe von Straftaten – hauptsächlich Raub und Erpressung – zur Last gelegt. Am Gelsenkirchener Hauptbahnhof soll er aber auch ein anderes Kind mit einem Messer verletzt haben, in diesem Fall habe gar eine Mordkommission ermittelt.
Nicht zuletzt weil seit fast einem Jahr eine erschreckende Serie von Raubüberfällen von Minderjährigen gegen Minderjährige die Stadtgesellschaft und die Polizei in Atem halten, hatten die Beamten ihre Bemühungen enorm verstärkt, jugendliche Straftäter zu identifizieren und möglichst einer Strafe zuzuführen.
Mutter legt syrisches Dokument vor – Hussein wird aus der Haft entlassen
Doch trotz der dicken Strafakte, die über Hussein angefertigt wurde, und trotz des Hafturteils, wurde er einige Wochen nach seiner Inhaftierung wieder entlassen, nachdem seine Mutter urplötzlich ein syrisches Dokument vorgelegt hatte, das beweisen soll, dass der Junge doch nicht 14 Jahre, sondern erst 12 Jahre alt sei. Zuvor hatte ein Altersgutachten, das nach WAZ-Informationen im Rahmen von Ermittlungen gegen Hussein angefertigt wurde, das Alter des Jungen auf mindestens 14 Jahre geschätzt.
Aufgrund des neuen syrischen Dokuments wird Hussein aber aus der Haft entlassen. Er besucht weiterhin eine Hauptschule in Gelsenkirchen, wenngleich auch nicht dieselbe wie vor seiner Festnahme. Menschen, die ihn und den Sachverhalt kennen, beginnen am deutschen Rechtssystem zu zweifeln. Denn sie sind überzeugt, dass Hussein älter als 14 Jahre ist: „War das schon alles? Kann er einfach unbehelligt weitermachen?“
„Es kommt öfter vor, dass das Alter und insbesondere die Strafmündigkeit von jungen Tatverdächtigen unklar ist. Dokumente aus dem Geburtsland sind für uns auf inhaltliche Richtigkeit nicht prüfbar, sondern nur auf Fälschung. Oft ist es aber das Problem, dass Geburtsdaten in den Heimatländern, insbesondere in ländlichen Gegenden, erst verspätet und nicht richtig erfasst werden – dann ist der Pass oder die Geburtsurkunde echt, das Datum aber trotzdem falsch“, erklärt Oberstaatsanwältin Anette Milk von der Essener Staatsanwaltschaft auf Nachfrage.
Zweites Altersgutachten wird angeordnet
Zum konkreten Fall will aber auch sie sich mit Verweis auf den Jugendschutz nicht äußern. Was die Staatsanwältin aber noch mitteilt ist, dass „in solchen Fällen mit einem ärztlichen Gutachten anhand der Knochen- und Gelenkstruktur versucht wird zu ermitteln, wie alt der Tatverdächtige wirklich ist“.
Polizei und Justiz sind offensichtlich ebenso wenig davon überzeugt, dass der junge Intensivtäter erst zwölf Jahre alt sein soll, wie es das syrische Dokument glaubhaft machen will, auf dessen Grundlage Hussein vorzeitig aus der Haft entlassen wurde. Ein zweites Altersgutachten wird angeordnet. Abermals steht für die Amtsmediziner fest: Hussein ist mindestens 14 Jahre alt und damit strafmündig. Aus sicherer Quelle weiß die WAZ Gelsenkirchen, dass der Jugendliche inzwischen wieder in einer Jugendstrafanstalt einsitzt. „Das System funktioniert ja Gott sei Dank doch“, sagt ein Beteiligter erleichtert. Denn unterschwellig kursierte auch längst die Sorge, rechte Parteien könnten von dem Fall Wind bekommen und versuchen, ihn auszuschlachten.
*Name von der Redaktion geändert.