Gelsenkirchen. Umjubelter Auftritt der Toten Hosen in Gelsenkirchen: Ihr satirischer Abend mit Gerhard Polt und den Well-Brüdern wird zu einem denkwürdigen.
Die Toten Hosen spielen teilweise in Lederhose und Trachtenjanker mit Herzblut auf der Zither und dem Alphorn? Südlich des Weißwurstäquators würde man da wohl sagen: „Red koan Schmarrn!“ Doch an diesem bayrischen Abend im Amphitheater ist nun einmal nichts normal. Sondern alles anders. Deshalb teilen sich die bekanntesten Punkrocker der Republik die Bühne auch mit Kabarettist Gerhard Polt und den satirisch-musikalischen Well-Brüdern. Und jeder dieser Künstler beeinflusst und verändert gekonnt das Spiel der anderen – gemäß dem Motto: Mia san ihr!
Drei Freundinnen kommen stilecht in Tracht zum Hosen-Abend
Die Hosen sind in der Stadt. Das bedeutet sofort: Ausnahmezustand. Der herrscht auf den Zufahrtsstraßen in Richtung Horst, weil der Kampf um einen der raren Parkplätze in direkter Nähe zum Amphitheater tobt. Doch auch am Einlass ist ein wenig Geduld gefragt, bilden sich am Haupteingang doch Warteschlangen in einer Länge, die man sonst nur vor den Bierzelten beim Oktoberfest sieht.
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Fast alle der dort Ausharrenden tragen ein Fanshirt der Düsseldorfer Formation, die nun bereits seit über 40 Jahren gekonnt ihr Unwesen im Musikbusiness treibt. Die Mutigen haben sich hingegen stilecht in Schale geschmissen und ihrerseits die Trachten ausgepackt. Etwa Anja (42) aus Kirchhellen sowie Mareen (41) und Sabrina (45) aus Dorsten. Die drei Freundinnen setzen auf Kleid, Lederhose, Kniestrümpfe und was sonst noch so zur „vollen Montur“ gehört. Normale Hosen-Konzerte hätten sie „schon etliche“ gesehen. Nun habe sie vor allem die Neugier zu diesem ungewöhnlichen Aufeinandertreffen getrieben, das den Namen „Forever – Eine kulturelle Zumutung“ trägt.
Star-Fotograf Andreas Gursky und Broilers-Sänger sitzen auch im Publikum
Das gilt auch für die Prominenz im Publikum, die sich bevorzugt auf den Klappsitzen im bestuhlten Innenraum direkt vor der Bühne niederlässt. So wie Andreas Gursky, der weltbekannte Fotograf aus der Heimatstadt der Hosen, der aber weitestgehend unbehelligt bleibt. Deutlich gefragter war da Sammy Amara: Der Frontmann der populären Punkrock-Band Broilers musste so manches Selfie mit kontaktsuchenden Fans schießen.
Pünktlich um 20 Uhr schreiten die neun Protagonisten dann auf die Bühne. Kurze Verbeugung. Und ein donnernder Applaus des Publikums als maximaler Vertrauensvorschuss. Und gleich wird klar, was die Well-Brüder auszeichnet. Ihre Volksmusik-Klänge treffen auf Texte mit Biss und Witz. Und sie verneigen sich gleich vor ihrer Gastgeberstadt, wenn sie in Mundart dichten: „Wenn ich im Stau auf der A 40 steh’, ist der auf der A 42 genauso schee.“ Dann machen sie gesanglich auch noch die derzeit zweitklassigen Schalker Fußballer wieder zum Meister. Schneller kann man nicht in die Herzen der Besucher stürmen.
Kabarettist Gerhard Polt ist auch mit 81 noch voller verbaler Angriffslust
Sogar direkt hinein ins Publikum eilt Campino. Der Hosen-Sänger verschwendet keinen Gedanken daran, dass dies eine reine Sitzveranstaltung werden könnte und animiert nachdrücklich zur Party im Stehen. Das klappt auch immer, wenn er und seine Band an der Reihe sind. Die Hosen, sie reißen ihre Anhängerschaft buchstäblich von den Sitzen. So etwa bei „Laune der Natur“ oder „Liebeslied“. Die werden aber nicht in der üblichen Rock-Variante gegeben. Nein, etwas Schärfe und Tempo fehlen. Und dennoch funktionieren die Klassiker auch in dieser Light-Version.
Als nächstes ist Gerhard Polt an der Reihe. Der hat auch mit 81 noch nichts von seiner verbalen Angriffslust verloren. Vor allem die „Klimakleber“ bekommen gleich zu Beginn ihr Fett weg. „Was machen die denn?!?“, poltert Polt. „Wir haben den Klebstoff früher wenigstens noch geschnuffelt.“ Doch auch einen Seitenhieb auf die als Löwin getarnten Wildschweine im tiefen Brandenburg kann er sich nicht verkneifen.
Die Toten Hosen covern den Alphaville-Hit „Forever Young“
Alle drei Acts erhalten auf der Spielwiese jeweils genügend Raum, um sich zu entfalten. Mal in der vertrauten Konstellation, aber auch mal bunt durcheinandergewürfelt. Etwa, wenn Campino als Reporter von „Freies Radio Düsseldorf“ den als bayrischen Tourismusbeauftragten auftretenden Polt interviewt. Der spricht mit Blick auf preußische Touristen nur folgende Warnung aus: „Willst du als Wanderer die ewige Ruh, geh auf den Berg nur in Halbschuh!“
Doch dieser stete Wechsel zwischen Musik- und Wortbeiträgen hat Einfluss auf den Rhythmus der Veranstaltung. Gerade, wenn die dürstende Hosen-Seele nach treibenden Songs wie „Wünsch dir was“ oder dem lustigen Alphaville-Cover „Forever Young“ nach mehr giert, wirkt die nächste Talkrunde wie eine nicht wirklich willkommene Gemütsabkühlung. Aber: Dieses Konzept war im Vorfeld bekannt. Und wenn die katholische Kirche, die CSU und der frühere Schalke-Patron Clemens Tönnies zur Zielscheibe des bajuwarischen Spotts werden, hat das auch höchsten Unterhaltungswert. Wenn auch eben keinen rockigen.
Ein eisgekühlter „Bommerlunder“ als hochprozentige Zugabe
Mit der ersten Zugabe kommt dann doch noch der angekündigte große Regen. Als Entschädigung fürs Ausharren werden die Alphörner ausgepackt. Hosen-Gitarrist Breiti spielt dazu virtuos auf der Zither. Und sein Nebenmann Andi bekommt zum 61. Geburtstag gleich zwei Ständchen von den Massen. Spätestens bei „You’ll Never Walk Alone“ singt dann auch der letzte Zauderer auf dem Steinstufen-Halbrund beherzt und aus voller Kehle mit.
Mit großer Hartnäckigkeit ersingen sich die Zuschauer dann sogar noch eine dritte, nicht eingeplante Zugabe. Und so endet dieser vorzügliche Abend nach zweieinhalb Stunden mit einem eisgekühlten „Bommerlunder“. Sapperlot, was für ein Finale!