Gelsenkirchen-Buer. Dr. Lutz Heidemann wird 85 Jahre alt: Der Architekt und Soziologe hat dabei mitgeholfen, das Gesicht der Stadt Gelsenkirchen zu prägen.
Wer seine Wohnung in Gelsenkirchen-Buer betritt, dem fallen vor allem die vielen Bücher auf. Sie bevölkern die ganze Wohnung von Dr. Lutz Heidemann, nicht nur die Regale, auch die Tische, Stühle, Sofas. Der Mann ist extrem belesen, und er hat auch heute noch viel zu sagen. Lutz Heidemann, Stadtplaner, Architekt, Denker, Gedächtnis der Stadt Gelsenkirchen, wird am 29. Mai 85 Jahre alt.
Geboren wird Lutz Heidemann 1938 in Dresden – „Vorkriegsware, hat man früher gesagt“, sagt er und schmunzelt. Sechs Jahre alt ist er, als im Februar seine Heimatstadt bei einem britischen Bombenangriff in Flammen aufgeht. Seine Mutter muss mit dem kleinen Lutz und dessen jüngere Schwester flüchten. Die Flucht glückt, die kleine Familie kommt in einem thüringischen Dorf unter. Seinen Vater, einen hohen Ministerialbeamten, hat Heidemann nie kennengelernt, erst Jahrzehnte später erfährt er, dass er von Partisanen in Rumänien erschossen wurde.
Der heutige Gelsenkirchener erlebte eine Schulzeit in der DDR
„Wir hatten in Dresden durch die Stellung meines Vaters in einem gewissen Wohlstand gelebt“, sagt Heidemann – jetzt, als Flüchtlinge, waren die Heidemanns auf der unteren Stufe der sozialen Leiter gelandet. Diese Erfahrung, sagt er heute, habe ihn für sein Leben geprägt, habe seinen Sinn für soziale Fragen geschärft.
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Seine ersten acht Schuljahre verbringt Lutz Heidemann auf einer Dorfschule, anschließend geht es zur Oberschule nach Apolda. Doch schon als Schüler fallen ihm die Widersprüche des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden auf: „Man wusste immer sehr genau, was man in der Schule sagen darf – und was nicht“, erinnert er sich. In der 50er-Jahren ist das Reisen zwischen Ost und West noch möglich, und so erkundet der junge Lutz zum einen mit dem Fahrrad die DDR – reist aber auch per Anhalter durch die Bundesrepublik bis nach Italien. Schon damals begeistern ihn Bauten, begeistert ihn Baugeschichte, seine Beobachtungen verstärken aber auch seine Skepsis gegenüber der DDR und der marxistischen Ideologie. Die propagiert den Fortschritt, den Glauben daran, dass das Neue immer besser sei als das Alte. Damit hadert Heidemann. „Sind Bauten aus dem 19. Jahrhundert automatisch besser als die aus dem 18. Jahrhundert?“, fragt er sich zweifelnd. Weder der Kommunismus, aber auch nicht der Kapitalismus überzeugen ihn wirklich, „es muss doch einen dritten Weg geben.“
Assistentenstelle an der Uni statt Architekturbüro
1956 flüchtet Heidemann nach West-Berlin, macht dort seinen Schulabschluss, beginnt ein Architekturstudium. Seiner Reiselust frönt er weiter, fährt per Anhalter oder mit lokalen Verkehrsmitteln fünf Monate durch den Nahen Osten und erkundet antike und islamische Stätten, arbeitet als Student sechs Monate in Rom und berichtet noch heute begeistert von langen nächtlichen Erkundungsgängen durch die „ewige“ Stadt.
Dass Heidemann kein „klassischer“ Architekt geworden ist, liegt an seinem nach wie vor ungebrochenen Interesse an sozialen und historischen Fragen, im Nebenfach studiert er Soziologie. Bei einem Architekturbüro in Bielefeld, wo er nach dem Studium unterkommt, fühlt er sich nicht wohl, und so kommt er einem Ruf aus Bochum nach: An der dortigen Uni nimmt er eine Assistentenstelle am Lehrstuhl für Sozialwissenschaften an und beschäftigt sich mit der Soziologie als Hilfswissenschaft für Architektur. Er stellt dort die Frage, die Thema seiner Doktorarbeit wurde und sein ganzes Berufsleben prägt: „Wie wirkt Architektur auf Menschen?
„Logenplatz – aber in der dritten Reihe“
Es sind die späten 60er-Jahre, an den Unis stellen Studenten die alte Ordnung infrage. Heidemann nimmt „seine“ Studierenden mit in die wirkliche Welt, besucht mit ihnen Ratssitzungen, wo über Stadtplanung beraten wird – auch in Gelsenkirchen. Als sein Vertrag an der Bochumer Uni ausläuft, wechselt er 1972 ins Gelsenkirchener Stadtplanungsamt – und bleibt dort für den Rest seines Berufslebens. „Ich kam damals in einer spannenden Zeit in die Stadt“, erinnert er sich. „Mehr Demokratie wagen“: Dieses Motto von Willy Brandt dringt bis nach Gelsenkirchen vor, neue Formate wie Bürgerbeteiligung bei Bauprojekten werden erprobt.
Was damals für ihn keine Frage ist: Mit seiner Familie zieht Heidemann nach Gelsenkirchen, in der Stadt zu leben, deren Gesicht er mitprägt, ist für ihn selbstverständlich. „Bis heute leidet die Verwaltung ja darunter, dass viele Leute hier nicht wohnen“, kritisiert er. In der vordersten Reihe steht Heidemann nie: „Ich hatte einen Logenplatz – aber in der dritten Reihe“, sagt er. Er wird Abteilungsleiter, stellvertretender Amtsleiter, entscheidet sich gegen eine Bewerbung zum Amtsleiter. „Da wäre ich zerrieben worden“, sagt er heute.
Von Ruhe kann auch im Ruhestand keine Rede sein
Bequem war Lutz Heidemann nie, ist es auch heute nicht. Er unterstützt Bürgerinitiativen, etwa als es darum geht, das Schloss Horst zu sanieren. Vehement kämpft er für den Erhalt des Hans-Sachs-Hauses und anderer Baudenkmäler, schreibt Gestaltungs- und Erhaltungssatzungen für Siedlungen. Die Internationale Bauausstellung Emscher Park in den 90er-Jahren prägt er aus Gelsenkirchener Sicht maßgeblich. Aber er erlebt auch Niederlagen: „Dass wir es nicht geschafft haben, die Zeche Bergmannsglück zu erhalten, schmerzt bis heute“, sagt er.
Mit 62 Jahren geht Heidemann in den Vorruhestand, von Ruhe kann allerdings keine Rede sein. Als „Wanderprediger“, wie er sagt, führt er Gruppen durch Gelsenkirchens Stadtteile, verfasst Texte zu Erinnerungstafeln, schreibt Bücher. Und er legt Finger in Wunden, übt Kritik: Dass etwa die Ludgerus-Kirche in Buer an einen Privatmann verkauft wurde, hält er für eine „schlimme Sache“, der Stadtverwaltung wirft er vor, wichtige Planungsprojekte an Gutachterbüros zu vergeben.
Und er hört nicht auf, weiterzumachen: Zurzeit arbeitet er an einem Buch über die Cranger Straße, geplant ist auch ein Werk zur Stadtgeschichte vor dem Jahr 1800. Einfach aufzuhören mit der Arbeit: Für jemanden wie Lutz Heidemann scheint das undenkbar.