Gelsenkirchen. Enormer Bedarf: Zumeist ist Gelsenkirchens Frauenhaus voll belegt. So steht es um die Pläne für ein so dringend benötigtes zweites Frauenhaus.

Die interaktive Karte zeigt „Rot“ – das gesamte Ruhrgebiet und Sauerland, fast das gesamte Rheinland, nicht ein freier Platz. Einzig in Datteln, Dülmen und Aachen steht an diesem Tag die Ampel auf „Grün“, wahrscheinlich aber nicht lange, denn es ist nur eine Momentaufnahme. Nicole Grobe schließt von innen die Haustür auf, es ist ein gewöhnlicher Morgen, irgendwo in dieser Stadt. Die Diplom-Sozialpädagogin arbeitet in Gelsenkirchens erstem und einzigen Frauenhaus. Und auch sie muss heute sagen: „Wir sind voll belegt.“ Kein Platz, kein Schutz für von Gewalt in der Beziehung betroffene Frauen.

Frauenhaus in Gelsenkirchen: „Wir sind voll belegt“

Wäre Nicole Grobe jetzt in einem telefonischen Erstgespräch mit einer Frau, die dringend einen der mehr als gefragten Plätze benötigt, würde sie sich so fühlen: „Eine Frau abzuweisen, ist ganz, ganz schwer und oft sehr belastend“, sagt sie. „Das ist immer noch bitter, es geht ja immer auch um Gefahr, die Femizid-Zahlen sind ja real“, führt sie fort. Gestern, da habe die Ampel für Gelsenkirchens Frauenhaus für kurze Zeit auf „Grün“ gestanden. Innerhalb von zehn Minuten hätten drei Frauen mit jeweils vier Kindern angerufen. Auch sie musste Nicole Grobe ablehnen. Aus Kapazitätsgründen.

Diplom-Sozialpädagogin Nicole Grobe im Spielzimmer des Gelsenkirchener Frauenhauses: „Eine Frau abzuweisen ist oft sehr belastend.“
Diplom-Sozialpädagogin Nicole Grobe im Spielzimmer des Gelsenkirchener Frauenhauses: „Eine Frau abzuweisen ist oft sehr belastend.“ © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Jeden dritten Tag stirbt eine Frau in Deutschland durch die Gewalt eines Mannes, laut dem Verein „Frauen aufs Podium“ wurden im Jahr 2019 in diesem Land 117 Frauen Opfer eines Femizids. Im vergangenen Jahr lag die Auslastung des hiesigen Frauenhauses bei 87 Prozent. Dass der Bedarf in Gelsenkirchen enorm ist, ist längst bei Stadtverwaltung und Politik angekommen. Sozialdezernentin Andrea Henze hatte dazu bereits zu Beginn des Jahres Gespräche mit dem NRW-Gleichstellungsministerium geführt. Die Signale, sie seien positiv, heißt es. Zunächst geht es aber noch darum: „Wie gestalten wir den Prozess?“, so Henze und meint damit etwa die Wahl eines geeigneten Standorts oder eines möglichen Betreibers.

Gelsenkirchener Frauenhaus: „Die Frauen sind häufig sehr verzweifelt“

Auf Nachfrage der Redaktion teilt Henze weiter mit: „Welche Anforderungen an den Betreiber des neuen möglichen Frauenhauses gestellt werden, soll eine Auswahlkommission erarbeiten. Diese soll aus Vertretern der Politik, Verwaltung und möglicherweise weiteren Akteuren gebildet werden.“ Einen Vorschlag zur Bildung dieser Kommission gibt es im nächsten Sozialausschuss am 3. Mai.

Von außen ist das Frauenhaus nicht zu erkennen, ein gewöhnliches Gebäude, das für so viele Frauen letzte Hoffnung und gleichzeitig Start in ein neues Leben war und ist. Seit 40 Jahren gibt es diese Anlaufstelle in Gelsenkirchen, Nicole Grobe arbeitet seit 1992 hier. Fünf Kolleginnen gestalten mit ihr einen neuen Alltag für die Bewohnerinnen und ihre Kinder. Da gibt es viel zu tun. Dann geht es nicht nur ums Ankommen, sondern beispielsweise auch um die finanzielle Situation der Betroffenen. „Das Wichtigste: Nehmen Sie Ihre Papiere und die persönlichen Sachen, die nicht ersetzbar sind, mit“, rät Nicole Grobe als Erstes den Frauen. Oft muss alles sehr schnell gehen, beim Auszug aus dem alten Leben und dem Einzug ins Frauenhaus.

Blick ins Spielzimmer des Gelsenkirchener Frauenhauses: Hier wird gespielt, gegessen, gebacken – gelebt.
Blick ins Spielzimmer des Gelsenkirchener Frauenhauses: Hier wird gespielt, gegessen, gebacken – gelebt. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

„Die Frauen sind häufig sehr verzweifelt“, hat Diplom-Pädagogin Grobe erlebt. „Keine Frau geht leichtfertig in ein Frauenhaus, eben weil da so viel dranhängt. Das erfordert sehr viel Mut und ist ein sehr großer Schritt“, erklärt sie. Letztendlich geben die Frauen immer auch ein Stück Zuhause auf und begeben sich auf unbestimmte Zeit in eine meist totale Isolation.

Letzte Hoffnung Frauenhaus: Betroffene erleben massive körperliche Gewalt

Sie alle haben mindestens psychische Gewalt erlebt, ein Großteil aber auch massive körperliche. Partnergewalt, sie ziehe sich durch alle Schichten, „da sind Männer, denen man es nie ansieht“, so Grobe. Es sind auch Männer, die plötzlich ein sehr gewaltvolles Verhalten zeigen würden, das wie aus dem Nichts komme. Oft sei Eifersucht das Motiv, weiß Nicole Grobe. Die dazugehörigen Kinder, sie sind immer gleichsam betroffen. Sie erleben die gewaltvolle Stimmung innerhalb der Familie und auch die Not ihrer Mutter. Im Frauenhaus, das auch Kinderhaus ist, können sie wieder zur Ruhe kommen.

Und wie ist der Alltag im geschützten Raum, wohl bedacht? Die Frauen leben auf mehreren Etagen, die Wohnungen sind etagenweise voneinander getrennt und möbliert, dort finden sie alles, was sie für ihren Alltag brauchen. Je nach Etage und Zuschnitt gibt es zwei bis drei große Schlafräume, das Bad wird gemeinsam genutzt, die Küche ebenfalls. Alleinstehende Frauen müssen sich unter Umständen ein Schlafzimmer teilen. Am Tag des WAZ-Besuchs lebten im Frauenhaus zehn Kinder und acht Frauen, eine weitere Frau mit ihrem Kind war gerade auf dem Weg dorthin.

Frauen werden stark gemacht – für ein Leben nach dem Frauenhaus in Gelsenkirchen

Diese Wohnungen und die Frauen, ihre Schicksale, kann die WAZ an diesem Tag nicht kennenlernen. Vor allem, um diesen einzigartigen Schutzraum aufrechtzuerhalten. Ein großer, gemütlich eingerichteter Aufenthaltsraum im hinteren Teil des Gebäudes ist Interview-Ort, darunter: ein wahres Spiele-Paradies. Hier ist der Raum für die Kinder, hier gibt es unzählige Spiel-Ideen, hier lebt Haus-Hamster „Herr Hilde“, hier werden sie von Sozial-Pädagoginnen betreut.

Der hintere Teil ist auch Treffpunkt, im angrenzenden begrünten Hinterhof ist ausreichend Platz zum Spielen und für Gespräche. Denn das soll das Frauenhaus ja ebenfalls sein: Nicht nur Notunterkunft, sondern auch ein Platz, wo die Frauen Zeit haben, wieder zu sich zu kommen und im Miteinander Trost zu finden. „Hier soll ein heiterer Ort sein, wo Gemeinschaft auf eine gute Art erlebt wird und so wieder ein Stück Normalität möglich ist“, erklärt Nicole Grobe. Denn es gibt ja ein Ziel: die Frauen stark zu machen für ein Leben nach dem Frauenhaus.

Aber dieser Gewaltschutz kostet: In Gelsenkirchen würden die Kosten für Bezieherinnen von Sozialleistungen immer bei 20 Euro, in NRW je nach Frauenhaus und Kommune zwischen 20 und 100 Euro pro Tag und pro Person liegen, berichtet Grobe. Bei Bezieherinnen von Sozialleistungen werden die Kosten für die Miete von den entsprechenden Stellen, etwa dem Jobcenter, übernommen. „Frauen, die keinen Anspruch auf Sozialleistungen oder ausreichendes eigenes Einkommen haben, können sich einen Frauenhaus-Platz gar nicht erst leisten“, sagt Nicole Grobe.

Frauenhaus Gelsenkirchen: Erreichbarkeit & Spenden

Für betroffene Frauen ist das Frauenhaus Gelsenkirchen Tag und Nacht erreichbar unter 0209 201100, per E-Mail unter . Weitere Informationen gibt es auch auf der Homepage des Frauenhauses unter frauenhaus-gelsenkirchen.de

Das Frauenhaus in Gelsenkirchen ist autonom, Träger ist der 1978 gegründete Verein „Frauen helfen Frauen“. Ein Teil der Finanzierung erfolgt über Zuschüsse des Landes NRW und der Stadt Gelsenkirchen, aber auch durch Mitgliedsbeiträge. „Das allein reicht nicht“, heißt es in einem Flyer des Frauenhauses. Neben den Groß-Spendern gebe es auch einen „treuen Stamm Spender, die auch kleinere Beträge spenden“, sagt Nicole Grobe. Ohne die Spenden wäre der Betrieb des autonomen Frauenhauses nicht aufrecht zu erhalten.

Die Landesarbeitsgemeinschaft Autonomer Frauenhäuser hat eine Kampagne ins Leben gerufen: Unter dem Titel „Rauf die Plätze“ fordern die Macher bessere Frauenhauszugänge für von Gewalt betroffene Frauen und wollen die Situation der Frauenhäuser in Nordrhein-Westfalen verbessern. Wer die Kampagne unterstützen möchte, findet Informationen dazu unter raufdieplaetze.de

Rund 60 Plätze, so rechnet sie, seien nach der Istanbul-Konvention für eine Stadt wie Gelsenkirchen nötig. Ein Drittel ist vorhanden. Sozialdezernentin Andrea Henze betont: „Wir gehen das aktiv an, das ist ein Thema, das für Gelsenkirchen sehr wichtig ist.“ Henzes „absoluter Wunsch“ (der ein persönlicher ist) wäre ein Start zum 1. Januar 2024. „Aber da hängen noch viele Parameter daran, die Unsicherheiten bieten.“