Gelsenkirchen. Referat für ästhetischen Terrorismus nennt sich ein Kollektiv aus Gelsenkirchener Kreativköpfen, das herrenlose Einkaufswagen fotografiert.

Sie gehören in manchen Ecken der Stadt inzwischen schon beinahe zum Alltagsbild: herrenlose, mitten in der Gegend stehengelassene Einkaufswagen. Für viele Bürgerinnen und Bürger sind sie auf ihrem Fußweg durch die Stadt manchmal ein Hindernis, emotional aber stets ein absolutes Ärgernis. Nun hat sich ein Kollektiv, bestehend aus sechs Gelsenkirchener Kreativköpfen, der Sache angenommen. Dieses im Dezember 2022 gegründete Sextett nennt sich Referat für ästhetischen Terrorismus (RäT). Und es schaut aus einem völlig veränderten Blickwinkel auf diese stählernen Störenfriede auf vier Rollen.

Der Foto-Kalender ist auf der Homepage der Gruppe zu finden

Das Konzept erklären Heinz Niski und Bernd Matzkowski, zwei Gründungsmitglieder dieser Gelsenkirchener Gruppierung: Wann immer einer von ihnen unterwegs einen von besagten Einkaufswagen erblickt, wird sofort das Smartphone oder die Kamera gezückt, um die manchmal bizarre, manchmal trostlose, aber stets aufbewahrungswürdige Szenerie bildlich festzuhalten. Ob in Toreinfahrten, vor verlassenen Hauseingängen oder mitten in der Fußgängerzone: Besagte Einkaufswagen sind fast überall anzutreffen.

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Mit den fertigen Fotos dieser ungewöhnlichen Motive füttert die Gruppe dann einen digitalen Kalender, der im Internet zu finden ist und aus 52 Blättern besteht – eines pro Kalenderwoche. Damit die Arbeiten aber nicht nur in der Online-Welt, sondern auch in der realen zu betrachten sind, sollen ausgewählte Aufnahmen zeitnah auch in den beiden Filialen der Buchhandlung Kottmann in der Altstadt und in Buer in den Schaufenstern ausgestellt werden.

Zu jedem Foto gibt’s einen humorigen, manchmal auch melancholischen Text

„Wir verfolgen keinen pädagogischen Ansatz, wollen hier niemand zu einem besseren, korrekten Verhalten umerziehen“, stellt Niski gleich zu Beginn klar. Wer einen Einkaufswagen vom Firmengelände wegschiebt, der begeht aus rein rechtlicher Sicht einen Diebstahl – egal, ob er oder sie das Gefährt auch nur drei Straßen vom Supermarkt entfernt schon wieder abstellt. „Uns ärgert die Haltung, die oft hinter solch einem Verhalten steht“, sagt Niski, „diese Gleichgültigkeit, diese Ignoranz, diese nicht vorhandene Achtsamkeit für Dinge, die einem nicht selbst gehören“.

Doch statt sich wie viele andere Zeitgenossen immer nur über dieses Fehlverhalten aufzuregen und sich zu ärgern, wagen die RäT-Mitglieder mit ihrem Fotoprojekt einen satirisch-humorigen, manchmal aber auch melancholischen Blick auf dieses so emotionalisierende Thema. Denn jedes Fotos auf jedem digitalen Kalenderblatt wurde mit einem Text angereichert. Manche augenzwinkernd zwischen den Zeilen formuliert, andere klingen aber fast schwermütig.

Wehmütige Erinnerungen an den Aalverkäufer in der Gelsenkirchener Altstadt

So wie etwa jener auf Kalenderblatt eins: Der Verfasser erinnert sich darin an den Aalverkäufer, der einst auf der Bahnhofstraße seine Ware lautstark anbot. Dieser sei aber schon längst verschwunden. „Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, realisiere ich, dass die goldenen Zeiten vorbei sind und dass die Stadt und ihre Menschen eine Tragödie erleben, die sich langsam aber sicher in ihr Inneres frisst.“ Das Foto dazu zeigt einen zurückgelassenen Einkaufswagen samt Tannenbaum, der an der oberirdischen Straßenbahn-Haltestelle zurückgelassen wurde.

„Diese Szenerien sind im Übrigen nicht gestellt. Wir fotografieren sie bis auf ganz, ganz wenige Ausnahmen genau so, wie wir sie vor Ort antreffen“, beteuern der Ückendorfer Kabarettist und Autor Matzkowski (70) und der in der Altstadt lebende Rentner Niski (69). Und was machen sie, nachdem sie das Foto geschossen haben? Sagen sie bei den Super- oder Baumärkten Bescheid, denen der jeweilige Wagen gehört. „Die Läden sind gar nicht groß interessiert, die Wagen zurückzubekommen“, schildert Niski seine bisherigen Erfahrungen. Bei Wagen-Dienstahl würde wohl sofort eine Versicherung der Märkte greifen. Dieser Schwund sei in der Kalkulation offensichtlich eingepreist.

Und so landen diese temporären Kunstobjekte am Ende da, wo sie aufgrund ihrer nach wie vor vorhandenen Funktionalität eigentlich überhaupt nicht hingehören: im Müll.

Der Kalender ist auf der Homepage der Gruppierung im Internet zu finden unter: https://terror.faktur.org.