Gelsenkirchen-Buer. Medizinisches Personal im Dauerstress: Warum im Gelsenkirchener Bergmannsheil zwei Tage lang ein Notfall den nächsten jagt.
Ein schwer verletztes Kind wird eingeliefert und kommt gleich in den Schockraum des Bergmannsheils. Dort steht ein Notfallteam bereit. Über die näheren Umstände wissen alle nicht viel. Nur, dass der kleine Patient eine schwere Verbrennung erlitten hat. Jetzt muss in Windeseile geklärt werden, wie schlimm der Zustand des Kindes ist, welche Verletzungen durch den Kontakt mit den Flammen noch entstanden sind, ob es etwa Schäden erlitten hat an den Atemwegen. Das Unglücksszenario bindet die Aufmerksamkeit aller und lässt völlig vergessen, dass es sich um eine Übung handelt.
Zum vierten Mal bereits findet ein solches Schockraum-Simulationstraining im Krankenhaus Bergmannsheil statt. Instruktoren des Instituts für Patientensicherheit und Teamtraining (InPass) aus Reutlingen entwerfen dabei realitätsnahe Szenarien. Sie sitzen als Regisseure der Übungen nebenan, steuern die Hightech-Puppe, kontrollieren ihren Kreislauf oder lassen sie vor Schmerzen schreien. So wie es der kleine Patient gerade tut. „Das bringt jedes Team durcheinander“, sagt Friedrich Kutscha-Lissberg, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie.
Viel Stress und Komplikationen: Das Scheitern wird in Gelsenkirchen bewusst provoziert
Er erklärt, die Puppe könne noch mehr, zum Beispiel die Pupillen verändern oder den Blutdruck. So ließen sich auch Komplikationen simulieren. Genau das sei das Ziel der „Regisseure“, die natürlich allesamt eine medizinische Ausbildung haben. „Sie bringen das Team an seine Grenzen. Das Scheitern wird dabei ausdrücklich provoziert.“ Genau hier liegt Kutscha-Lissberg zufolge der Lerneffekt. Insbesondere, weil das Team im Schockraum gefilmt wird und danach eine gemeinsame „Manöverkritik“ folgt.
Im Schockraum wird gerade festgestellt, dass der Mund des Kleinen schwarz ist. Nun müsse das Team prüfen, ob die Nasenhaare angesenkt sind, erklärt Friedrich Kutscha-Lissberg, es könne sich um eine Rauchgas-Vergiftung handeln. Ganz wichtig sei in jedem Fall, immer gedanklich offen zu sein, nie fixiert auf ein Szenario. Ein Beispiel: „Ein Patient kommt rein und wir hören, er hatte einen Fahrradunfall. Aber vielleicht hatte er einen Herzinfarkt und ist deshalb vom Rad gefallen.“
Ernstfall-Simulationen haben sich bewährt – im Notfall muss jeder Handgriff sitzen
Beim Betrachten des Geschehens im Schockraum über den großen Bildschirm fällt auf, dass es recht demokratisch zugeht, alle sich einbringen dürfen. „Es ist schon hierarchisch strukturiert“, erklärt der Chefarzt. „Aber wir brauchen die Demokratie. Jeder muss sprechen dürfen und gehört werden.“ Das erhöhe die Sicherheit. Das wisse man aus der Luftfahrt.
Dort kommt im Übrigen auch das Konzept solcher Simulationen her. Das Konzept ist, wer regelmäßig übt, der ist, wenn es drauf ankommt, besser vorbereitet. Das gehe auf, meint Frank Niemann, Leiter der Kinderintensivstation der Kinderklinik. Kommen kleine Notfallpatienten in die Ambulanz, sind die Kinderärzte und Pflegerinnen und Pfleger aus der Kinderklinik immer mit dabei.
Auch dieses interdisziplinäre Arbeiten wird heute geübt. „Im Studium habe ich das überhaupt nicht gut gefunden. Es ist aber unabdingbar für die Ausbildung. Denn nach kurzer Zeit ist man drin, das fühlt sich sehr lebensecht an. Wir wissen, im Notfall müssen wir fit sein. Und das kann man erstaunlich gut üben.“
Besonders sind Notfälle von Kindern: Ihr Körper ist viel kleiner, filigraner, empfindlicher
Besonders bei kleinen Patienten sei das bedeutsam. Denn während erwachsene Schwerverletzte im Schockraum beinahe alltäglich sind, sind die Fallzahlen bei Kindern erfreulich gering. „Den Notfall mit ihnen zu üben, hilft allen im interdisziplinären Team. Denn wir sagen immer wieder: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.“ Ein Beispiel: „Die Atemwege sind viel kleiner, es kommt viel schneller zu bedrohlichen Situationen.“
Das Schockraum-Simulationstraining ist beendet. Dieses Übungsszenario hat nur wenige Minuten gedauert. Nun kommen wieder alle zusammen im Nebenraum, jene, die sich eben beweisen mussten und jene, die in einem anderen Team sind, nur zugeschaut haben. Miteinander besprechen sie die Erfahrungen, das Erlebte. Bis dann die nächste Übung ansteht. Gleich wird an größeren Puppen geübt. Rund sechs solcher Simulationen können pro Tag durchgeführt werden. Während der zweitägigen Ernstfall-Simulation können die Mediziner und Pflegepersonal also noch etliche Puppenleben retten.