Gelsenkirchen-Buer. Wie sah der Alltag der Juden in Gelsenkirchen-Buer vor der Nazizeit aus? Mit dieser Frage hat sich Lutz Heidemann in seinem Buch beschäftigt.

Dass in Gelsenkirchen-Buer einmal eine Synagoge stand, das sollte inzwischen bekannt sein: An der Maelostraße, wo heute das Hallenbad steht, kamen von 1922 bis 1938 jüdische Menschen zum Beten zusammen. Am 9. November, in der „Reichspogromnacht“, wurde das Gebäude von Nazis verwüstet und in Brand gesteckt, viele jüdische Einwohner von Buer wurden später deportiert und umgebracht. Doch wie lebten diese Menschen in der Zeit vor dem Nationalsozialismus? Dieser Frage ist der frühere Stadtplaner und Bauhistoriker Lutz Heidemann nachgegangen – und hat ein Buch zum Thema herausgebracht.

„Die jüdische Gemeinde von Buer und ihr Bethaus an der Maelostraße. Eine Spurensuche“, heißt das Buch, das Heidemann im Eigenverlag herausgibt und das ab sofort erhältlich ist, etwa in den Filialen der Buchhandlung Kottmann. Darin beschäftigt er sich mit der Geschichte der Jüdinnen und Juden in Buer vor 1930. Der Zeitraum ist ganz bewusst gewählt: „Ich wollte die Juden dieses Mal nicht auf ihre Opferrolle im Holocaust reduzieren“, sagt Lutz Heidemann, „sondern wollte zeigen, wie ganz normales jüdisches Leben in Buer ausgesehen und wo es stattgefunden hat.“

Foto zeigt Synagoge von Gelsenkirchen-Buer kurz nach der Fertigstellung

Der Gelsenkirchener Autor Lutz Heidemann. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er als Stadtplaner.
Der Gelsenkirchener Autor Lutz Heidemann. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er als Stadtplaner. © FUNKE Foto Services | Thomas Schmidtke

Alles habe mit einem Foto angefangen, berichtet er. Zufällig war er auf ein Bild gestoßen, das den Betsaal der Synagoge zeigt, und das er noch nicht kannte. Nicht, dass es viele Bilder vom Innenraum der Synagoge gäbe. „Mir war eines bekannt“, sagt der Buchautor – umso überraschter war er, das sich das neugefundene Bild deutlich von dem unterschied, das er kannte.

Wie seine Recherchen ergaben, zeigt es die Synagoge bei ihrer Einweihungsfeier: Die Innenausstattung, die auf dem anderen, bekannten Bild zu sehen ist, fehlt noch in Teilen, Kübelpflanzen deuten auf eine Feier hin. „Leider ist bis jetzt kein Foto vom Äußeren des Bethauses bekannt geworden“, bedauert Heidemann. Von Zeichnungen weiß man, dass es sich um ein relativ einfaches, eher unauffälliges Gebäude gehandelt habe.

Mühsame Recherche: Viele Akten waren noch mit der Hand geschrieben

Der Fotofund war die Initialzündung für die Beschäftigung Heidemanns mit dem Thema. „Was haben die Juden in Buer von 1895 bis etwa 1930 gemacht, bevor etwas mit ihnen gemacht wurde?“, fragt er in der Einleitung. Bei der Beantwortung dieser Frage kam ihm eine Regelung des preußischen Staates zugute. Der verlangte, dass in jüdischen Gemeinden die Wahlen zum Synagogenvorstand unter öffentlicher Aufsicht stattfanden – die Akten dazu sind erhalten geblieben. „Darin finden sich detaillierte Listen über die Gemeindemitglieder“, berichtet Heidemann.

Das Buch von Lutz Heidemann ist ab sofort im Handel erhältlich.
Das Buch von Lutz Heidemann ist ab sofort im Handel erhältlich. © Matthias Heselmann

Wer das Buch in die Hand nimmt, der merkt relativ schnell, wie viel Arbeit Heidemann in die Recherche gesteckt hat. Viele der Akten und Listen sind noch mit der Hand geschrieben und waren dementsprechend mühsam zu entziffern. Entstanden ist ein eindrucksvolles, detailreiches Porträt jüdischen Lebens ins Buer, Erle und Resse.

Anders als in Alt-Gelsenkirchen zogen jüdische Familien vergleichsweise spät nach Buer, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie siedelten sich vor allem rund um den „Buerschen Stern“ an, die Kreuzung um den heutigen Goldbergplatz. „Anders als in anderen Städten bildete sich aber kein ,Ghetto’, ein Bezirk also, der hauptsächlich von Juden bewohnt war“, so der ehemalige Stadtplaner – dafür sei die Zahl der jüdischen Menschen auch zu klein gewesen. Bei der Wahl der Synagogen-Repräsentanten im Jahr 1911 etwa waren 39 beziehungsweise 40 Männer wahlberechtigt – „wohlgemerkt Männer“, sagt Heidemann, „Frauen und Kinder wurden da nicht gezählt.“

Fotos und Grundriss der Villa des Kaufmanns Carl Hochheimer

Ausgehend von diesen Listen erforschte Lutz Heidemann die Familiengeschichten und erzählt sie: Gesammelt ergeben sie ein Panorama und ermöglichen tiefe Einblicke in das Leben vor 100 Jahren. Man lernt etwa Benno Eichengrün und seine Familie kennen. Eichengrün war bis 1933 Geschäftsführer des Kaufhauses Alsberg an der Ecke Hochstraße/Essener Straße (heute Horster Straße) – heute befindet sich dort das (inzwischen leerstehende) Weiser-Kaufhaus.

Eichengrün gehörte zu den Spitzenverdienern der jüdischen Gemeinde, denn auch darüber geben die Listen, die Heidemann verwendete, Aufschluss. Der Kaufmann wohnte mit seiner Familie in einer ansehnlichen Villa an der Maelostraße 5, das Gebäude steht bis heute. Nach einem Umzug nach Berlin im Jahr 1936 gelang der Familie die Ausreise in die USA.

Dass Heidemann Stadtplaner und Bauhistoriker ist, kann sein Buch nicht verleugnen: Immer wieder erzählt er die Geschichte ausgehend von Bauten. Im Fall von Benno Eichengrün vom Kaufhaus, im Falle der Familie des Kaufmanns Carl Hochheimer ausgehend von der Villa an der Cranger Straße 46. Heidemann zeigt zahlreiche Bilder des Hauses, Grundrisse, Detailfotos und Innenaufnahmen. Ein längerer Abschnitt widmet sich der Bestattung Carl Hochheimer, die in einem Zeitungsartikel von 1930 beschrieben wird als „eine der größten, die Buer je gesehen hat.“

Ein Buch zum Blättern und Stöbern

Heidemanns Buch kann man von vorne bis hinten lesen – genauso gut ist es aber auch ein Werk mit vielen beeindruckenden, großformatigen Bildern, das zum Blättern und Stöbern einlädt. Immer wieder gibt es eingeschobene „Exkursionen“, durch eine blaue Färbung der Seitenränder vom restlichen Buch abgesetzt. Oft stellt Heidemann historische Gebäudefotos den aktuellen Aufnahmen gegenüber, und natürlich kommt der Stadtplaner und Bauhistoriker immer wieder zum Vorschein, wenn er etwa Fassaden beschreibt, verschiedene Baustile benennt und vergleicht.

Im Jahr 1932 wurde die jüdische Gemeinde Buer eigenständig, war nicht mehr nur „Untergemeinde“ der Gemeinde in Dorsten. Doch da war die Zeit für jüdisches Leben in Buer schon fast abgelaufen, ein Jahr später begann mit der Machtübernahme der Nazis die systematische Verdrängung und später Vernichtung der Juden.

Jüdisches Leben in Gelsenkirchen: Diese Parallelen zieht Lutz Heidemann zur Jetztzeit

Als nach dem Krieg, in den 1950er-Jahren, ein Heft mit dem Titel „500 Jahre Freiheit Buer“ erschien und sich ein Artikel mit dem Thema Kaufmannschaft beschäftigte, da fehlte jeder Verweis auf die jüdischen Kaufleute, deren Häuser in den 1930-Jahren „arisiert“ wurden. „Da wurde im Nachhinein ein Stück Kaufmanns-Geschichte schlicht ausradiert“, kritisiert Heidemann.

Im Schlusswort zieht er Parallelen zur Jetztzeit: Die Jüdinnen und Juden, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Buer kamen, seien Zuwanderer gewesen, genau wie die Menschen, die heute nach Deutschland und auch nach Gelsenkirchen kämen. „War die Integration gelungen“, fragt Heidemann und meint die Juden. „Warum hatte sich keine ausreichende Solidarität gebildet? Beachten und achten wir heute unsere Nachbarn ausreichend?“

Die Fragen lässt er unbeantwortet.