Gelsenkirchen. Der Baukultur NRW-Geschäftsführer warnt vor dem Rückfall in 60er-Jahre-Konzepte. Was er für Gelsenkirchens Zentrum und Peripherie vorschlägt.

Gelsenkirchen ist im Umbruch. Eigentlich ist die Stadt das permanent. Doch beim Wechselspiel von Wohnen, Handel, Klima, Wohnumfeld und demografischem Wandel geht es in der City wie in den Quartieren heute mehr denn je darum, zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln. Während alle gerade auf die Kaufhof-Zukunft starren wie das Kaninchen auf die Schlange, sieht Peter Köddermann, Geschäftsführer des in Ückendorf ansässigen Baukultur NRW e. V., die Zeit längst reif für ein umfassendes Umdenken. Wir haben ihn nach seinen Anregungen und Prioritäten für die Stadtgesellschaft gefragt.

Nachhaltige Stadtplanung steht besonders im Mittelpunkt

Köddermann ist weder Architekt noch Bauingenieur, sondern studierte Geschichte und Sozialwissenschaft und fand im Rahmen der IBA Emscher Park seinen Weg zur Baukultur. Der Baukulturbegriff des vom Land geförderten Vereins befasst sich zwar auch mit architektonischer Qualität, im Fokus steht aber besonders eine nachhaltige Stadtplanung, die lebenswerte Räume für die Bürgerinnen und Bürger schafft. Dazu gehören alternative Gestaltungsprozesse.

„Wir müssen zukunftsgerechte Räume entstehen lassen“

„120 Jahre lang sind die Innenstädte ökonomisch entwickelt worden, auf den Handel konzentriert, andere Funktionen verdrängend. Das hat längst ein Ende“, warnt Köddermann. „Es geht nicht darum, zu sagen, was schön ist oder nicht schön ist. Die Frage ist: Ab wann wird unsere Auseinandersetzung mit Gebautem und das, was wir bauen, wieder zu einer positiv besetzten Kulturleistung? Wir müssen zukunftsgerechte Räume entstehen lassen, in Innenstädten und in der Peripherie.“

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Für Städte bedeute dies, für sich zu klären, was die eigene Zielvorstellung ist. „Dann folgt die Frage nach dem Was und Wie,“ so Köddermann. Dafür arbeite die Baukultur NRW und berate gern. In Gelsenkirchen gebe es viele Kontakte zur Stadt. „Gelsenkirchen ist nach meiner Einschätzung schon einen Schritt weiter als andere Städte. Sie befördert die Diskussion und den Dialog in vielen Projekten, zum Teil auch von uns begleitet,“ versichert Köddermann.

Galeria Karstadt Kaufhof liegt im Herzen der Innenstadt. Er warnt davor, was mit der Stadt passiert, wenn dieses Gebäude längerfristig leer stehen sollte.
Galeria Karstadt Kaufhof liegt im Herzen der Innenstadt. Er warnt davor, was mit der Stadt passiert, wenn dieses Gebäude längerfristig leer stehen sollte. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Und in der Innenstadt? Hat die City-Initiative schon um Unterstützung gebeten? „Nein, bisher nicht. Viele Städte sollten aufpassen, nicht in die 60er Jahre zurückzufallen. Die Zeit der großen Ankermieter als Handelsmagneten ist aus meiner Sicht längst vorbei. Es braucht neue Konzepte, Ideen und Akteursgemeinschaften. 120 Jahre war der Fokus in Innenstädten auf Handel gerichtet, dessen Gewerbesteuern die Stadt finanzierten. Das Wohnen wurde verdrängt. Aber das Einkaufsverhalten hat sich verändert, die Konzepte des Einzelhandels sind vielfach nicht angepasst. In den Innenstädten werden viele Handelsflächen noch immer ausschließlich auf Handel betrachtet. AAA-Lagen werden heute noch als solche berechnet, obwohl sie faktisch diesen Wert nicht mehr erbringen. Für viele Objekte ist die Zeit der extrem hohen Mieteinnahmen vorbei,“ erklärt Köddermann.

„AAA-Lagen sind das längst nicht mehr“

Das Dilemma: Eigentümer wollen hohe Renditen, was Wohnraumentwicklung in der City nahezu ausschließt. Kommunen fehlen aber die Finanzmittel, solch teure Immobilien zu kaufen, um neu planen zu können. „Klar ist: Die Zeit drängt. Wenn wir jetzt nicht handeln in der Stadt und nicht genutzte Flächen längere Zeit leer stehen, verfallen sie zusehends und werden im allgemeinen Bewusstsein zu Unorten. Sie verlieren ihren Wert und werden gemieden. Das wäre tragisch,“ warnt der Experte.

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Erfolgreicher Wandel sei möglich, wo lokale Händler, Bürger, Politik und Verwaltung gemeinsam agieren, Großimmobilien gemeinsam beleben. Bereits umgewandelte Kaufhäuser zeigen laut Köddermann, dass eine Misch-Belegung positiv wirken kann. „Warum nicht Geschäftsideen mit öffentlichen Angeboten und Freizeitinitiativen unter einem Dach verbinden? Die Immobilie selbst mit einem attraktiven, öffentlichen Raumkonzept verknüpfen und so einen lebendigen Stadtraum setzen“, so seine Anregung.

Mischung aus Wohnen, Erholung, Gastronomie und Handel

Damit ein neuer Anziehungspunkt entstehen kann, müsse aber auch das Umfeld eingebunden sein, mit attraktiver Wohnbebauung, Erholungsflächen mit grünen Elementen, Gastronomie und Non-Profit-Bereichen. „Für so eine zukunftsfähige Veränderung aber braucht es den Dialog mit Nutzern und Bewohnern. Man muss fragen, wie Bewohner den öffentlichen Raum vor ihrer Tür nutzen möchten. Da geht es ja um mehr als Parken“, ist Köddermann überzeugt.

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Wichtig sei es, sozialfreundliche öffentliche Räume zu schaffen, in denen auch Menschen ohne viel Geld sich wohlfühlen können. „In der Corona-Zeit mutierten Cafés in Super- und Baumärkten, also auf Gewerbeflächen, in den Städten zu gerngesehenen Treffpunkten für viele Senioren. Warum denkt man solche zentralen Gewerbeflächen nicht auch als attraktive öffentliche Stadträume?“ fragt Köddermann. Mit kleinem Park daneben, einer Möglichkeit zum Verweilen statt noch mehr Parkraum: Auch die Märkte selbst könnten von höherer Aufenthaltsqualität vor der Tür profitieren, glaubt er.

Neue Chancen böten auch gemischte Wohnformen etwa für Studenten, Senioren und Gewerbemöglichkeiten für Start-ups. „Es gibt Punkte, wo die Stadt Gelsenkirchen beginnt, wirklich auch nach vorne zu denken. Die Umwandlung des Stadtteils Ückendorf zurück zu einem urbanen Quartier zeigt dies. Ein Ansatz ist, im Dialog mit der Bürgerschaft zu schauen, wo kann ich Parkflächen wegnehmen, um Raum zu schaffen für Treffpunkte oder auch für Grün. Dafür braucht es den Austausch von Politik, Bürgerschaft und Verwaltung. Und dann braucht es Lust auf einen Prozess, der Neues zulässt. Daran hakt es leider noch in vielen Städten,“ kritisiert er.

Baukultur auch im sozialen Sinn begleiten

In Gelsenkirchen hat Baukultur NRW e.V. bereits mehrere Projekte begleitet und unterstützt. Die „Biennale der Urbanen Landschaft“ belebte Ückendorf mitten im Umbruch, in einem „Phase 0“-Projekt wurden die Anwohner der Kurt-Schumacher-Straße nach ihren Wünschen für die Gestaltung ihres Wohnumfelds befragt, und altersgerechte Lebenswelten waren ebenfalls ein Thema.

Im Kongress „Building Bildung“ Ende 2022 mit Experten aus ganz Europa ging es darum, den Gedanken der Baukultur im sozialen Sinne auch in Schulen zu tragen, schon früh ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Die Beiträge von Baukultur NRW sind vielfach kostenfrei. Auch für Kommunen.

Äußerst kritisch bewertet Peter Köddermann auch die Abriss- und Neubaukultur im Land. „Das Bauen ist mit einem Anteil von 60 Prozent der größte Müllproduzent weltweit. Aktuell werden nur neun Prozent möglicher Ressourcen wiederverwertet, und dies überwiegend im Straßenbau. Das können wir uns nicht länger leisten! Umbau und Sanierung mögen zeitaufwendiger erscheinen, sind aber weitaus nachhaltiger.“ Das Bewusstsein für eine Umbaukultur wachse jedoch, auch in Gelsenkirchen.