Gelsenkirchen-Horst. Am Montag wird im Gelsenkirchener St. Josef-Hospital an Rudolf Bertram erinnert. Der Mediziner rettete im Krieg zahlreiche Jüdinnen vor den Nazis
Nach allem, was man über Dr. Rudolf Bertram liest, wäre es ihm vermutlich unangenehm gewesen, so viel Aufhebens um seine Person zu machen. Doch gerade in Zeiten, in denen man Prominenz schon durch Nichtigkeiten erlangt, lohnt es sich umso mehr, den Scheinwerfer auf Menschen wie Rudolf Bertram zu richten. Der Gelsenkirchener Arzt hat in unmenschlichen Zeiten Menschlichkeit gezeigt – und viele Leben gerettet.
Der Mediziner war während des Zweiten Weltkrieges Chefarzt am Horster St. Josef-Hospital sowie am damaligen Marienhospital in Rotthausen. 1944 rettet er 17 jüdischen Frauen das Leben, Zwangsarbeiterinnen, die auf dem Gelände der Firma Gelsenberg in Horst untergebracht waren: Bertram beschützte die Frauen vor dem Zugriff der Nazis und bewahrte sie so vor dem Transport in die Vernichtungslager. Am kommenden Montag findet im St. Josef-Hospital ein ökumenischer Gedenkgottesdienst statt, in dem an Rudolf Bertram erinnert wird.
Ab 1937 arbeitete Rudolf Bertram in Gelsenkirchen
Der spätere Mediziner wurde 1893 im sauerländischen Olpe geboren. 1914, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, begann er mit dem Medizinstudium, nur wenig später meldete er sich freiwillig zur Armee und kämpfte an der Ostfront, wo er 1915 in russische Gefangenschaft geriet. Nach Kriegsende kehrte er nach Deutschland zurück und nahm sein Studium wieder auf, das er 1921 abschloss. Nachdem er in Krankenhäusern in Köln, Elberfeld und Hamburg gearbeitet hatte, kam er im Jahr 1937 nach Gelsenkirchen und betreute dort das St. Josef-Hospital und das Marienhospital. Ein wenig war es auch eine Flucht aus Hamburg: Weil sich Rudolf Bertram dort kritisch gegenüber dem NS-Regime geäußert hatte, stand er vor Gericht. „Er hatte zuvor aber einem hohen Nazi durch eine Operation das Leben gerettet“, erinnert sich Bertrams Tochter Ortrud Kathol-Bergmann. „Der hat ihn dann aus Dankbarkeit vor einer Bestrafung bewahrt.“
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1939 war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen, ab etwa 1942 gerieten auch die Großstädte in Deutschland zunehmend ins Visier der alliierten Bomber. Im Sommer 1944 brachte die SS etwa 2000 jüdische Frauen, meist aus Ungarn, nach Gelsenkirchen. Die Frauen, die zuvor im KZ Auschwitz-Birkenau eingesperrt waren, sollten das bei Bombenangriffen schwer beschädigte Hydrierwerk der Gelsenberg Benzin AG wieder aufbauen, auf dem Firmengelände entstand das „Gelsenberg-Lager“, ein Außenlager des KZ Buchenwald. Dort waren die Frauen notdürftig in Zelten untergebracht, Schutz vor Bombenangriffen gab es nicht, der Zugang zu Bunkern wurde ihnen verwehrt.
Arzt versteckte Patientinnen im Krankenhauskeller
Am frühen Abend des 11. September 1944 kam es zu einem erneuten schweren Bombenangriff auf das Werk. Mindestens 150 Frauen kamen dabei ums Leben. Rudolf Bertram aus dem nahe gelegenen St. Josef-Hospital machte sich sofort mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Lager. Er sorgte dafür, dass die Verletzten zunächst vor Ort behandelt und dann auf die Krankenhäuser in der Umgebung verteilt wurden – kein selbstverständlicher Vorgang, schließlich galten Juden in der Ideologie der Nazis als „Untermenschen“. Bertram verabreichte seinen Patientinnen auch das neue Antibiotikum Penizillin, ein Medikament, das es offiziell in Deutschland damals noch nicht gab.
Und Bertram kümmerte sich weiter um seine Patientinnen. Ihm war klar, dass der Krieg nicht mehr allzu lange dauern würde: Mit Beharrlichkeit und List sorgte er dafür, dass viele Frauen auch weiterhin im Krankenhaus bleiben konnten, obwohl ihre Verletzungen ausgeheilt waren – ansonsten hätte ihnen der Rücktransport in ein KZ gedroht. Zeugen berichteten nach dem Krieg von Gipsverbänden um bereits verheilte Gliedmaßen, andere Patientinnen versteckte der Arzt auch schon einmal im Keller. 17 Frauen konnte er so bis zum Kriegsende 1945 retten. Und dabei war er nicht allein: Schwestern und Pfleger halfen mit, teils tatkräftig, teilweise, indem sie schlicht das Geheimnis für sich bewahrten.
Ehrungen lehnte der Mediziner zeitlebens ab
Noch bis zu seiner Pensionierung 1965 blieb Rudolf Bertram Chefarzt am St. Josef-Hospital, 1975 verstarb er in Gelsenkirchen. Mit einigen der geretteten Frauen blieb er auch nach dem Krieg im Kontakt. „Einige haben uns besucht, viele haben uns geschrieben“, erinnert sich Ortrud Kathol-Bertram. Im Familienkreis sei die Rettungsaktion ihres Vaters zwar immer ein Thema gewesen. „Aber er hat uns eingeschärft, davon nichts nach außen zu erzählen, er war der Meinung, es sei Dank genug, dass seine Familie den Krieg überlebt hätte.“
Folgerichtig lehnte er Ehrungen zeitlebens ab: Als „menschlich und ärztlich selbstverständliche Verhaltensweise“ bezeichnete er seinen Einsatz. Dennoch wurde er geehrt: Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel verlieh Bertram fünf Jahre nach dessen Tod den Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“, mit dem Menschen ausgezeichnet werden, die während der Nazizeit Jüdinnen und Juden gerettet haben.
Gottesdienst am Montag in der Horster Krankenhaus-Kapelle
Ortrud Kathol-Bergmann hat Rudolf Bertram vor allem als sehr liebevollen, großzügigen und warmherzigen Menschen in Erinnerung. „Er hat sich viel mit seinen Kindern beschäftigt und uns Mädchen etwa auch die Zöpfe geflochten – und das zu einer Zeit, als das sehr wenige Väter getan haben.“
Die Stadt Gelsenkirchen ehrte Rudolf Bertram, indem sie 1996 den Platz vor dem Horster Krankenhaus nach ihm benannte, vor dem Hospital weist eine Bronzetafel auf den Chefarzt hin. Einmal im Jahr wird auch mit einer Gedenkfeier an den Arzt erinnert: Bis zum Beginn der Corona-Pandemie fand die Gedenkfeier immer im Umfeld des „Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ am 27. Januar statt.
„Nach zwei Jahren Pause wollen wir die Veranstaltung jetzt wiederbeleben“, sagt Ulrich Fehling von der Gelsenkirchener Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Und so findet am Montag, 30. Januar, um 18 Uhr der Gedenkgottesdienst in der Horster Krankenhauskapelle statt, der von der Jüdischen Gemeinde gemeinsam mit der katholischen St. Hippolytus-Gemeinde und der evangelischen Epiphanias-Gemeinde gestaltet wird. Der Gottesdienst ist öffentlich, anschließend besteht in der Cafeteria des Krankenhauses noch Gelegenheit zum Austausch. Auch Ortrud Kathol-Bertram will an der Veranstaltung teilnehmen. „Das ist mir sehr wichtig“, sagte sie.