Gelsenkirchen. Wie Gelsenkirchen am 4. Dezember 1962 in einen viertägigen Ausnahmezustand geriet. Vor Arztpraxen und Hospitälern bildeten sich lange Schlangen.

„Nebel des Grauens“: Was nach einem Horrorfilm-Titel klingt (den es 1980 tatsächlich gab), das haben die Gelsenkirchener vor 60 Jahren live erlebt. Am Morgen des 4. Dezember 1962 erwachten sie unter einer gefährlichen Dunstglocke, die ihnen buchstäblich den Atem nahm. Verursacht durch eine „meteorologische Katastrophe“, so das Hygiene-Institut vor Ort, geriet die Emscherstadt in einen Ausnahmezustand, der Wäschereien zum Stillstand zwang, Arztpraxen lange Schlangen bescherte – und Menschenleben forderte. Vier Tage sollte der Smog anhalten. Und zu einem Umsteuern in der deutschen Umweltpolitik beitragen.

Es war eine Hochdruckwetterlage, die Anfang Dezember in weiten Teilen des Ruhrgebiets dazu führte, dass Ruß, Flugasche und Feinstaub nicht abziehen konnten. Diese wurden vielmehr durch einen Wärmedeckel in den oberen Luftschichten förmlich heruntergedrückt.

Gelsenkirchener Zeitung sprach 1962 von„alarmierendem Grad an Luftverschmutzung“

Nur zu erahnen war im Dezember 1962 die Gelsenkirchener Altstadtkirche. Eine Inversionswetterlage sorgte dafür, dass Ruß, Qualm und Staub – darunter auch giftiges Schwefeldioxid – nicht abziehen konnten.
Nur zu erahnen war im Dezember 1962 die Gelsenkirchener Altstadtkirche. Eine Inversionswetterlage sorgte dafür, dass Ruß, Qualm und Staub – darunter auch giftiges Schwefeldioxid – nicht abziehen konnten. © Institut für Stadtgeschichte | Institut für Stadtgeschichte

Abgase und Abfälle aus Zechen, Hüttenwerken und Chemiefabriken waberten zwar schon seit Beginn der Industrialisierung ungefiltert durch die Luft, erschwerten das Atmen und die Sicht. An jenem 4. Dezember aber wurde die Belastung so stark, dass die Gelsenkirchener WAZ damals von einem „alarmierenden Grad von Luftverschmutzung“ berichtete.

Der Schwefeldioxid-Gehalt habe das zulässige Maß „bei weitem“ überschritten, hieß es, so dass das Hygiene-Institut in Gelsenkirchen Krankenhäuser und Arztpraxen verständigte und um Informationen bat, inwieweit sich die erhöhte Konzentration auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirke. Der Wochenzeitung Die Zeit zufolge war der vom Verband Deutscher Ingenieure (VDI) empfohlene Richtwert von 0,3 ppm achtfach erhöht.

„S02-Krankheit“: Gesundheitsgefahr von Schwefeldioxid war Experten bekannt

Die Zeche Nordstern in Gelsenkirchen-Horst 1962: Rauchende Schlote prägten das Stadtbild und trugen ihren Teil zur Luftverschmutzung bei.
Die Zeche Nordstern in Gelsenkirchen-Horst 1962: Rauchende Schlote prägten das Stadtbild und trugen ihren Teil zur Luftverschmutzung bei. © Institut für Stadtgeschichte | Kurt Müller

Dass das Gas nicht nur scharf stank, sondern auch gesundheitsgefährdend war, daran bestand für Experten schon damals kein Zweifel. So sprach etwa der in der WAZ zitierte Werksarzt eines „großen Gelsenkirchener Unternehmens“ von der „S02-Krankheit“ mit „bleicher Gesichtsfarbe, Appetitlosigkeit, Schleimabsonderung“. Auch praktische Ärzte wussten von einer Zunahme an Herz- und Atembeschwerden wie Bronchitis zu berichten, wenn die Luft mal wieder besonders „dick“ war.

Zudem hatten Untersuchungen des Oberhausener Gesundheitsamtes und eines Staubhygienikers 1957/58 ergeben, dass in Oberhausen mehr als doppelt so viele Säuglinge an Symptomen der Knochenerkrankung Rachitis litten als Babys in den Niederrhein-Landbezirken. Die Krankheit wird durch Vitamin-D-Mangel verursacht, etwa infolge fehlender Sonneneinstrahlung. Tatsächlich kam schon Die Zeit im Dezember 1962 zu dem Ergebnis, dass die Dunstglocke 40 Prozent des Sonnenlichts abschirme. Stadtkinder waren den Untersuchungen zufolge auch messbar kleiner und leichter als ihre Altersgenossen vom Land.

Verdreckte Laken: Gelsenkirchener Wäschereien mussten Arbeit einstellen

Feiner Staub lagerte sich Anfang Dezember 1962 auf den Autos ab, so dass deren Halter kaum nachkamen mit der Reinigung. Das Phänomen „Revierlack“ war nicht neu, das Ausmaß hingegen sehr wohl.
Feiner Staub lagerte sich Anfang Dezember 1962 auf den Autos ab, so dass deren Halter kaum nachkamen mit der Reinigung. Das Phänomen „Revierlack“ war nicht neu, das Ausmaß hingegen sehr wohl. © Institut für Stadtgeschichte | Kurt Müller

So vertraut den Menschen jener Zeit die Luftverschmutzung auch gewesen sein mag: Fakt ist, dass am 4. Dezember auffällig viele (und besonders ältere) Patienten die Praxen und Krankenhäuser mit Herzproblemen und Atemnot stürmten, auch Bindehaut-Entzündungen an den Augen und Kopfschmerzen traten verstärkt auf.

So durchtränkt war die feuchte Nebelluft mit den giftigen Partikeln, dass viele Wäschereien gar die Arbeit einstellten – und teils einen täglichen Verdienstausfall von 250 Mark verlangten. So wie Wäscherei-Inhaber Holl, der nach längerer Suche im Smog die Ursache der hartnäckigen Verschmutzung frisch gewaschener Laken entdeckte. Der dunkle Staub war offenbar durch die geöffnete Tür in die Trockenräume gelangt.

„Revierlack“: Ruß und Staub legten sich auf die Gelsenkirchener Autos

Für Hubert Kurowski, pensionierter Lehrer und Heimatforscher aus Gelsenkirchen-Erle, war es Anfang der 1960er Jahre normal, sich nach der Rückkehr aus der Schule den schwarzen Staub aus den Haaren zu waschen.
Für Hubert Kurowski, pensionierter Lehrer und Heimatforscher aus Gelsenkirchen-Erle, war es Anfang der 1960er Jahre normal, sich nach der Rückkehr aus der Schule den schwarzen Staub aus den Haaren zu waschen. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Auch Autolackierereien klagten über große Probleme, legten sich die Stäube doch wie Puderzucker auf die frisch bearbeiteten Fahrzeuge, nur eben schwarz statt weiß. Dies war zwar grundsätzlich nicht neu – schon lange kursierte für das Phänomen der Begriff „Revierlack“ –, das Ausmaß aber, das war dann doch extrem.

Da half auch die Empfehlung des Landes NRW an Alte und Kinder nicht, aus Gründen des Gesundheitsschutzs lieber zu Hause zu bleiben. Denn der Luftdruck sorgte dafür, dass die Stäube auch durch Fensteröffnungen und Türritzen in die Wohnungen drangen, so die WAZ vom 5. Dezember. Überdies: Verursacher der Luftverschmutzung war nicht nur die Industrie, neben deren Anlagen die Beschäftigten unmittelbar wohnten, sondern auch Privatleute, die ihre Öfen mit Kohle heizten.

Für den kleinen Hubert war es normal, sich nach der Schule die Haare zu waschen

Der Erler Heimatforscher Hubert Kurowski, Jahrgang 1949, kann sich an diesen speziellen Tag zwar nicht erinnern. Wohl aber an das tägliche Wasch-Ritual, wenn er nach Hause kam: „Wenn ich aus der Schule zurückkehrte, musste ich meine blonden Haare erstmal mit kaltem Wasser vom Staub befreien“, erzählt er. Als problematisch habe er das damals nicht wahrgenommen. „Das war damals eben so. Wir sind damit aufgewachsen.“

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Erst im Laufe des 7. Dezember löste sich die Nebelwolke allmählich auf. Sie hatte freilich nicht nur den Gelsenkirchenern das Leben schwer gemacht, sondern auch vielen anderen Menschen im Revier. In Essen etwa war ein Lkw in die Böschung des Kanals gerast, weil die Sicht so schlecht war. Und in Dortmund war ein Baby gar im Beisein der Eltern erstickt. Insgesamt, so bilanzierte die Wochenzeitung Der Spiegel rückblickend 1985, seien 156 Menschen mehr gestorben als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Gelsenkirchener Smog-Ausnahmezustand trug zu mehr Umweltbewusstsein bei

Konsequenzen hatte dies nicht nur für deren Familien, die um sie trauerten. Die Smog-Katastrophe, über die bundesweit berichtet wurde, trug letztlich dazu bei, das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Gefahren der Umweltverschmutzung zu schärfen.

1964 erließ die Bundesregierung die „Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft“, in den 1970ern und 1980ern folgten Immissionsschutz-Gesetze, die bei „Smog-Alarm“ Einschränkungen für Verkehr und Industrie vorsahen. Filteranlagen halfen, den Ausstoß nicht nur von Schwefeldioxid zu senken. Dass der „Himmel über der Ruhr endlich wieder blau“ wurde, wie es SPD-Politiker 1961 im Wahlkampf gefordert hatten, es ist auch dem „Nebel des Grauens“ vom 4. bis 7. Dezember 1962 zu verdanken. Gegen das Klischee von der Wäsche, die durch Stäube schwarz wird, kämpft (nicht nur) die Emscherstadt freilich immer noch.

Auch in London kostete die Luftverpestung Menschenleben

„Smog“ – eine Wortneuschöpfung, gebildet aus „smoke“ (engl. für Rauch) und „fog“ (engl. für Nebel) – war schon 1962 kein alleiniges Ruhrgebiets-Phänomen.

Anfang Dezember 1962 erstickte auch London „fast unter einem grauen Kissen“, berichtete die WAZ damals von Sichtweiten unter drei Metern und einem Bus mit Kindergartenkindern, der wegen der schlechten Sicht im Nebel verloren ging.

Laut WAZ brachen wegen der schlechten Luft 32 Menschen tot auf der Straße zusammen. 1952 soll eine um das 14-fache erhöhte Schwefeldioxid-Konzentration gar rund 4000 Menschen das Leben gekostet haben, so 1962 die Wochenzeitung Die Zeit.