Gelsenkirchen-Hassel. Der 94-jährige Horst Selbiger war jetzt in der Lukaskirche in Gelsenkirchen-Hassel zu Gast. Seine Geschichte bewegte die Menschen zutiefst.
„Fragt uns, wir sind die Letzten.” So ist die Lesung des 94-jährigen Horst Selbiger am vergangenen Sonntag in der Hasseler Lukaskirche, zu der die Schalker Fan-Initiative geladen hat, überschrieben. Und so drastisch es klingt, so wahr ist es auch: Der Berliner gehört zu den letzten jüdischen Überlebenden des Holocaust, dem unbarmherzigen Wüten der Nationalsozialisten in Europa. Davon erzählt der zarte Mann eindrücklicher, als die meisten es erwartet haben. Rund eine Stunde lang berichtet er ergreifend aus seiner Jugend, berührend – und manchmal kaum auszuhalten. Am Ende bleibt kein Auge trocken.
Horst Selbiger wird 1928 in Berlin geboren. „Mein Vater war Zahnarzt. Meine Vorschulzeit war wunderbar. Ich hatte viele Freunde – und dann kam das Jahr 1933.” Dem jüdischen Vater droht schon jetzt ein Berufsverbot. Nur sein Dienst im Ersten Weltkrieg, seine vielen Militärorden, erlauben es ihm, weiter zu praktizieren. Noch. „1934 wurde ich eingeschult in einer christlichen Schule. Ich war der einzige Jude. Und dann begann schon die Hetzte. Die Kinder, mit denen ich noch vor einigen Wochen gespielt hatte, haben mich isoliert.”
In der Mittelschule lernt Horst Selbiger die Liebe seines Lebens kennen
Der Junge leidet. Täglich. Sichtbar. „Mein Vater hatte einen Patienten, der war Trainer bei Makkabi Berlin. Er sagte, der Horst braucht Selbstbewusstsein. Und dann habe ich in dem Verein Boxen gelernt. Das war für mich der Durchbruch: Der kleine Horst wurde zum Kämpfer. Das ging mein ganzes Leben so.”
Vorerst aber muss er nicht kämpfen. 1938 kommt Horst Selbiger auf die jüdische Mittelschule. „Alle Kinder hatten die gleichen Erfahrungen gemacht wie ich. Und jetzt waren wir nur noch eine Gemeinschaft.” Eine, zu der auch Mädchen gehören. „Da gab es ein bildhübsches Mädchen mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen. „Sie konnte wunderbar mit den Wimpern klimpern”, schwärmt Selbiger – damals wie heute. „Alles an ihr war schön, alles mit ihr war schön. Sie war meine erste Liebe. Und meine einzige. Mit zehn Jahren.”
Mit 14 Jahren muss Selbiger Zwangsarbeit leisten
Sechs Jahre genießen die beiden Seite an Seite ihre Jugend. Soweit das die Verhältnisse erlauben. Bis sich dann im Frühjahr 1942 Gerüchte verdichten, dass alle jüdischen Schulen geschlossen werden. Eigentlich bereiten die Schüler gerade ein Theaterstück vor. Es erzählt die biblische Geschichte von Ester, die als Königin einen Genozid am jüdischen Volk verhindert – eine Parabel auf die damalige Zeit. Die Hauptrolle übernimmt Horst Selbigers Liebe, für den Zuhörer bislang namenlos. „Sie spielte nicht nur die Ester. Sie war die Ester. Für mich blieb mein liebes Mädchen immer die um die Wahrheit ringende, kämpferische Ester.”
Wir taggen GElsen: Videos und Bilder aus Gelsenkirchen finden Sie auch auf unserem Instagram-Kanal GEtaggt und auf TikTok. Oder besuchen Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook.
Nur Tage später werden die 14-Jährigen zu Zwangsarbeitern. „Ester musste auf dem Friedhof Gräber ausheben für jüdische Selbstmordopfer und die Leichen waschen.” Horst selbst muss Flugzeugteile aus Metall in einem starken Lösungsmittel entfetten. Während der nächsten Monate werden die meisten jüdischen Zwangsarbeiter deportiert. „Immer öfter fragten wir uns, wann sind wir dran? Wir Halbwüchsige mussten täglich mit Tragödien fertig werden.” Allein 61 Familienmitglieder von Horst Selbiger werden deportiert. „Die älteste mit 86 Jahren, der jüngste mit sechs Monaten und zwei Tagen.”
„Danke, dass wir heute mit Ihnen weinen durften“
Lebensgeschichte als Buch erhältlich
Die Idee zur Veranstaltung geht auf Paula Leh zurück. An der Dortmunder Uni hört und erlebt sie Horst Selbiger bei einer Lesung. Sie ist so begeistert, dass sie ihn in die Gelsenkirchener Heimat holen möchte.
Als Veranstalter gewinnt sie die Schalker Fan-Initiative, in der sie selbst aktiv ist. Als Veranstaltungsort bietet sich die Lukaskirche an. Mutter Gudrun Leh ist seit vielen Jahren am Standort als Sozialarbeiterin tätig.
Die Lebensgeschichte von Horst Selbiger hat er selbst niedergeschrieben unter dem Titel „Verfemt - Verfolgt - Verraten: Abriss meines Lebens”. Sie ist im Handel erhältlich.
Am Samstag, 27. Februar 1943, treibt die SS alle verbliebenen Juden in Berlin zusammen. „Wir wurden in die ehemalige Synagoge gebracht. Wir vegetierten Körper an Körper. Und bei diesem Heulen und Zähneklappern traf ich meine Ester wieder. Wir umarmten, trösteten und wärmten uns und waren uns nah wie nie zuvor. Und wir versprachen uns ganz fest, wer überlebt, soll dieses Inferno der Nachwelt erzählen. Und dennoch vergingen siebzig Jahre, bis ich darüber sprechen konnte.”
Für die Besucher in Hassel ist das nachvollziehbar. Alle sind so ergriffen, dass sie um Fassung ringen bei der Schilderung der zwei letzten Tage und Nächte, die das junge Paar miteinander erlebt. „Für uns waren diese Nächte wundersame, ja heilige Nächte. Es war der Himmel mit uns und die Hölle um uns.” Am Montag, 1. März, wird Ester Horsts Armen entrissen. Für immer. Den Schmerz darüber prägt sein Leben, ihn fühlt er bis heute – und die Hasseler mit ihm. Als Horst Selbiger endet, herrscht Stille in der Kirche. „Ich danke Ihnen und nehme Ihr Schweigen als Beifall.” Erst Minuten später tritt eine Frau ans Mikro, sagt mit tränenerstickter Stimme: „Danke, dass wir heute mit Ihnen weinen durften.”