Gelsenkirchen. Es ist das zweite Wochenende des experimentellen Formats „Urbanus-Herbst“ in Buer, bei dem für drei Wochen ein Teil der Hagenstraße gesperrt ist.
„Ab heut’ ist Pläne schmieden abgesagt. Das hier ist leben wie auf Klassenfahrt.” Es ist gerade halb neun am Freitagabend und Rapper „Weekend“ alias Christoph Wiegand bringt im „Lokal ohne Namen” den Boden und die Luft zum Beben. Doch es ist nicht einfach nur ein Konzert des gebürtigen Gelsenkircheners, es ist ein Abend im Format „Urbanus-Herbst”. Die Zeilen des Rappers sind dafür recht passend. Das gelebte Experiment nämlich will Freiraum bieten und Freiheiten – einen altbekannten Stadtraum neu zu denken, kreativ zu gestalten. Ihn einfach mal anders zu erleben. Abseits vom Alltag. Ein bisschen, wie auf Klassenfahrt.
Zwei Stunden zuvor erreichen noch ein paar Sonnenstrahlen die Sackgasse der Hagenstraße, die aktuell für rund drei Wochen keine Parkstraße ist, sondern Lebensraum sein soll. Damit sind die „Insane Urban Cowboys” im Auftrag der Stadt angetreten. Sitzgelegenheiten, die „Stadt-Terrassen”, laden zum Verweilen ein. Ausgenutzt wird der Raum gerade aber nicht. Immer noch weiß nicht jeder um das Konzept dieses Feldversuches. Das könne besser kommuniziert werden, findet Lena. „Aber es ist eine schöne Idee. So etwas gab es ja auch schon mal in Ückendorf.”
Stadträume zurückgewinnen als Lebensräume
Tatsächlich. Und dort hat der Gedanke, sich Stadträume zu erobern, auch bereits viele Freunde gewonnen. „Ich finde das richtig gut. Ich bin extra aus dem Stadtsüden gekommen”, sagt Jule. „Es ist ein bisschen wie damals, als auch ich hier mit vielen anderen vor der Tür des Fucks gestanden habe.” Der Unterschied: Jetzt kann man hier komfortabel sitzen. „Es ist schön, der Gastronomie mehr Raum zu geben und Anreize zu geben, das Auto auch mal stehenzulassen”, sagt Berat. Stadträume zurückzugewinnen als Lebensräume, das findet er gut. Innenstädte seien doch traditionell Räume, wo man spazieren gehe und entspannt seine Zeit verbringe.
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Ein wichtiger Partner ist dabei Christoph Klug, Wirt des „Domgolds” und des „Lokals ohne Namen”, beide Anrainer der gesperrten Parkstraße. Er darf innerhalb der Öffnungszeiten drei Tische vor die Türe stellen. Ein Mini-Biergarten, der schon recht gut genutzt wird und im Laufe des Abends immer besser angenommen werden soll. „Das Format ist cool. Viele Leute nehmen das gerne an. Teilweise sitzen sie auf den Möbeln, kaufen sich vielleicht mal ein Getränk. Es ist ein allgemeiner Begegnungsraum.” Ganz wichtig: Wer sein Getränk wieder wegbringen muss, darf das auf den Toiletten des Gastronoms tun.
Ayo, Dazzit und der Rapper Weekend auf der Bühne
Christoph Klug verfolgt schon länger ein ganz ähnliches Konzept: den Uranuskiez. Im nächsten Sommer soll die Parkstraße unter diesem Titel und gemeinsam mit anderen Gastronomen als großer Biergarten genutzt werden. Weil der buersche Macher nicht nur Wirt ist, sondern auch Lokalpolitiker bei der FDP, in dieser Funktion will er den politischen Dialog über das Format „Urbanus-Herbst” vorantreiben. „Wichtig ist, dass alle Parteien dabei sind.”
Es ist sieben Uhr und das Programm beginnt – mit „AYO”, einem jungen, talentierten Sänger aus Wuppertal. Eingängig und ansprechend sind seine Songs, die die Besucher gleich mitnehmen. Die allermeisten von ihnen sind jung, voller Energie und Lust auf diesen Abend. Eine wichtige Zielgruppe, findet Sarah Rissel, Vorstandsvorsitzende der „Insane Urban Cowboys”. Die Grafikdesignerin erzählt, bei Kreativprojekten in Schulen erlebe sie oft, dass junge Menschen denken, um in kreativen Berufen etwas zu werden, müsse man Gelsenkirchen verlassen. Der Eindruck sei, hier sei nichts los. Hier und heute ist das anders. Hier machen die „Insane Urban Cowboys” was los.
Ein Brückenschlag zwischen dem Norden und Süden von Gelsenkirchen
Unterstützt natürlich von den drei Musikern des Abends. Der Zweite auf der Bühne ist „Dazzit” aus Hamburg. Gemeinsam mit Rapperfreund Alex und DJane Mala zündet er die nächste Eskalationsstufe des Abends: Seine starken Songs, authentisch und mit viel Persönlichkeit, treffen den richtigen Ton für die Gäste und feiern den Abend. Einen gelungenen Abend, wie Sarah Rissel findet. „Wir wollen mit den exemplarischen Programmangeboten möglichst viele Menschen ansprechen, erreichen, dass viele herkommen und Eindrücke mitnehmen.”
Dass besonders viele, die kommen, aus dem Stadtsüden kommen, dass das Format mit seinen zahlreichen Akteuren aus dem Stadtsüden quasi ein gelebter und lebendiger Brückenschlag ist, findet sie gut. „Es ist doch schön, Menschen in dieser Stadt einen Impuls zu geben, sich zu verbinden. Wir wollen gern helfen, die Stadtgesellschaft zusammenzubringen, nicht immer zu sagen, die da oben und die da unten.”
Auch „Weekend” war einst Gast im „Lokal ohne Namen”
Der Ort übrigens ist dafür nicht schlecht gewählt. Jeder, so scheint es, auch jeder Ückendorfer, hat irgendeine persönliche Erinnerung an das „Lokal ohne Namen”. Auch „Weekend”. „Ich finde es richtig geil, hier zu sein. Ich bin selbst ins Fuck gegangen. Das ist ein Ort, der mich geprägt hat. Das ist voll magisch.” Es werde sicher ein toller Abend, sagt er kurz vor seinem Auftritt. „Liebevoll”, meint er. Ganz falsch ist das nicht. Wenn auch nicht im klassischen Sinne. Dafür ist die Interaktion zwischen dem Rapper und seinen Gästen viel zu rasant, zu energiegeladen.