Gelsenkirchen-Horst. Was Geborgenheit ist, müssen traumatisierte Schützlinge einer Wohngruppe in Gelsenkirchen-Horst erst lernen. Dabei half eine Raum-Umgestaltung.
Rein ins Zimmer, Türe schließen, die Welt aussperren und sich gut aufgehoben wissen: Was selbstverständlich sein sollte, ist es mitunter gerade nicht. Den Schützlingen des Horster Vereins „Wohngruppe für Kinder und Jugendliche“ etwa fehlte in den ersten Lebensjahren oft so ein eigenes Reich – und mit ihm das Gefühl der Sicherheit. Mit einer Finanzspritze von 1400 Euro aus dem Topf des städtischen Bezirksforums sollte sich das nun ändern.
Psychische und physische Gewalt, Missbrauch, Verwahrlosung, Vernachlässigung: Was viele der neun Kinder und Jugendlichen zwischen sechs und 17 Jahren erlebt haben, die nun an der Horst-Gladbecker-Straße 7 leben, ist mit dem Begriff „schlechte Erfahrungen“ nur unzureichend umschrieben. Wohngruppen-Leiterin Elisabeth Gieseler bringt es so auf den Punkt: „Sie sind vielfach traumatisiert.“
Viele traumatisierte Kinder und Jugendliche in Gelsenkirchen-Horst stehen „unter Strom“
Dass sie die Erlebnisse ihrer Vergangenheit nach wie vor im Alltag spüren wie einen mit Steinen vollgepackten Rucksack, muss das pädagogische Team aus sechs Mitarbeitenden immer wieder feststellen. Einige Kinder seien unruhig, nervös und selbst in den eigenen Zimmern schlecht zur Ruhe gekommen, nachdem sie – oft mit Zustimmung ihrer Eltern – in die Wohngruppe umgezogen seien.
„Weil sie ständig unter Strom standen, wollten wir das Stresslevel durch die Gestaltung eines ,sicheren Ortes’ senken, um den Kindern und Jugendlichen mehr Stabilität auch in der räumlichen Umgebung zu verschaffen“, berichtet die Diplom-Sozialpädagogin Gieseler. Angeregt worden war dies durch Erzieherin Svenja Reinhardt, die eine eineinhalbjährige Zusatzausbildung zur Traumapädagogin absolvierte.
Gelsenkirchener Kinder malten sich ihren „sicheren Ort“ in Fantasiereisen aus
„Zuerst haben wir die Kinder gebeten, sich ihren individuellen ,sicheren Ort’ in einer Fantasiereise
auszumalen, dann ihn mit Worten zu beschreiben oder zu malen. So sollte er zu einem inneren Zufluchtsort werden, den sie aktivieren können, wenn sie sich verunsichert fühlen“, so die Wohngruppen-Leiterin.
Viele Details wurden angesprochen: Welche Gegenstände befinden sich wo in dem Zimmer? Wo sind Türen und Fenster zu finden? Wie ist das Licht? Läuft Musik? „Wir haben die Kinder in die Vorstellung hinein begleitet, alles überprüft und dann nach ihren Vorstellungen so umgestaltet, dass es optimal für sie ist“, erläutert Erzieherin Jana Stier.
Ein Gelsenkirchener Junge platzierte sein Bett vor der Tür, um sie im Blick zu haben
Während einige sofort ans Werk gingen, brauchten andere stärkere Impulse vom Team oder Anregungen beim Rundgang durch ein Möbelhaus. „Dabei haben wir immer viel Wert darauf gelegt, dass das Bauchgefühl stimmt und die Kinder nicht versuchen, einem fremden Trend nachzueifern, der nur anderen gefallen sollte“, so Gieseler.
Die Ergebnisse fielen höchst unterschiedlich aus: Ein Junge etwa platzierte sein Hochbett direkt vor der Zimmertür, so dass er diese immer im Blick hat. Unmittelbar unter der Matratze richtete er sich hinter Vorhängen ein „Geheimversteck“ ein, das ihm nun als Zufluchtsort dient.
Weißes Netz umspannt Sitzplatz einer jungen Gelsenkirchenerin wie ein Kokon
Deutlich verspielter wirkt dagegen das Zimmer eines kreativ begabten Mädchens: An den Wänden finden sich großformatige Zeichnungen eines Baums mit vielen (glitzernden) Blüten sowie in großen Lettern ihr Vorname. Auffallend ist auch ein von der Decke hängendes weißes Netz, das einen Sitzplatz wie ein Kokon umschließt. Kein Wunder, dass sich das Kind dort sicher und geborgen fühlt. Auch ein anderes Mädchen hat an der Decke einen Baldachin aus weißem Stoff befestigt, der ebenso gemütlich wie schützend wirkt.
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Ein weiteres Element der Traumapädagogik, das den Ansatz des ,sicheren Ortes’ ergänzt, ist das „Krafttier“: „Das können imaginierte Wesen sein, mit denen sich ein Kind identifizieren kann. Häufig sind es aber auch Stofftiere, die für sie eine große Bedeutung haben. Über diese Tiere lassen sich schwierige Themen leichter besprechen und aushalten“, erzählt Elisabeth Gieseler und zeigt auf eine überdimensionale Zeichnung an der Wand eines Jungenzimmers: ein Pokémon, „das das stärkste Monster überhaupt ist und alle anderen umhaut“, so Jana Stier.
Pädagogisches Team: Effekt der Raum-Umgestaltung ist spürbar
Ob die Umgestaltung sich am Ende tatsächlich gelohnt hat? Inwiefern sich das Verhalten der Kinder und Jugendlichen geändert hat? „Einige bleiben länger und lieber in ihren Zimmern. Sie fühlen sich ganz offensichtlich viel wohler“, berichtet die Erzieherin. Auch der Respekt vor den Räumen der anderen habe deutlich zugenommen. „Man geht jetzt nicht einfach so in die Zimmer der anderen, sondern klopft an. Die Privatsphäre wird besser beachtet.“
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Ein Junge, der bei seiner Herkunftsfamilie offenbar häufig aus dem Schlaf gerissen wurde und dann auch in der Wohngruppe nachts immer wieder aufgewacht ist, könne mittlerweile durchschlafen. Das führt das pädagogische Team auch auf das Konzept des ,sicheren Ortes’ zurück – und auf das gewachsene Vertrauen zu seiner Bezugs-Erzieherin Jana Stier. „Ich sage ihm immer wieder, seitdem er hier ist: ,Du brauchst keine Angst zu haben. Ich schlafe direkt nebenan und beschütze dich.’ Jetzt scheint er es endlich zu glauben.“
Wohngruppe wurde von Erzieherinnen 1995 gegründet
Der Verein „Wohngruppe für Kinder und Jugendliche“ existiert seit Mai 1995: Damals wurde er von drei Erzieherinnen des Propst-Wenker-Kinderheims, unterstützt von Freunden, Lehrern, Verwandten und Nachbarn, an der Horst-Gladbecker-Straße 7 gegründet.
Hintergrund der Vereinsgründung war die Schließung des katholischen Kinderheims Auf dem Schollbruch; so sollte die Verteilung der Mädchen und Jungen aus der Außenwohngruppe, die an der Horst-Gladbecker-Straße schon seit 1987 eine Heimat hatte, auf andere Einrichtungen vermieden werden. Finanziert wird die Wohngruppe durch die Entgeltsätze für jedes Kind vom Jugendamt. Dank Spenden können die Mädchen und Jungen auch im Sommer in den Urlaub fahren.