Gelsenkirchen. Alarm schlägt ein Gelsenkirchener Chefarzt wegen hoher Säuglingssterblichkeit. Sorge bereiten ihm Geburtstourismus und fehlende Vorsorge.

Die Säuglingssterblichkeit ist in Gelsenkirchen überdurchschnittlich hoch, das zeigen die neusten Zahlen des Statistischen Landesamtes für 2021. Demnach lag die Quote der verstorbenen Kinder im ersten Lebensjahr in Nordrhein-Westfalen mit 3,3 (je 1000 Lebendgeborenen) etwa auf dem Niveau des Vorjahres (2020: 3,4). Und Gelsenkirchen? Die Emscherstadt verzeichnet eine doppelt so hohe Todesrate.

Säuglingssterblichkeit in Gelsenkirchen: Quote um 100 Prozent über Landesdurchschnitt

In der Emscherstadt lag die Säuglingssterblichkeit im vergangenen Jahr bei 6,6 (je 1000 Lebendgeborenen). Demnach sind in Gelsenkirchen 100 Prozent mehr Kinder im ersten Lebensjahr gestorben als im Landesdurchschnitt. In Zahlen: Im vergangenen Jahr sind von den 2887 in Gelsenkirchen geborenen Kindern elf Jungen und acht Mädchen gestorben.

Auch der Vorjahresvergleich fällt mit einer deutlichen Steigerung auf: Lag die Sterblichkeitsquote im Jahr 2020 noch bei 4,6, so bedeutet das mit Blick auf 2021 immerhin noch eine Zunahme um 43,5 Prozent. Im Jahr 2000 lag die Sterblichkeitsquote bei 4,9, den letzten Höchststand erreichte sie mit 7,4 im Jahr 2010.

Dr. med. Marcus Lutz, Chefarzt für Neonatologie, Kinder- und Jugendmedizin des Marienhospitals Gelsenkirchen
Dr. med. Marcus Lutz, Chefarzt für Neonatologie, Kinder- und Jugendmedizin des Marienhospitals Gelsenkirchen © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Gelsenkirchener Chefarzt: Arbeitslosigkeit und Migrationshintergrund als Hemmschuh für Vorsorgeuntersuchungen

Marcus Lutz, Chefarzt am Marienhospital Gelsenkirchen der Abteilung für Neonatologie, Kinder-Pneumologie und Kinderkardiologie sagt zu den Zahlen: „Die Sterblichkeit bei Kindern im ersten Lebensjahr hier in Gelsenkirchen ist leider immer noch immens hoch.“ Arbeitslosigkeit und Migrationshintergrund seien dabei die größten Einflussfaktoren. Die Frühgeburtlichkeit hänge stark vom sozialen Status ab.

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„Wer wenig Geld zur Verfügung hat, geht nicht oder sehr selten zur Vorsorge“, so Lutz weiter. Das sei insbesondere bei Menschen aus den EU-Ost-Ländern Rumänien und Bulgarien der Fall. „Diese Menschen gehen sehr oft nicht zum Gynäkologen, nicht selten schlagen sie erst zur Geburt im Krankenhaus auf.“ Trotz des starken Engagements seitens der Stadt bewegten sich diese Menschen häufig unter dem Radar. „Manche reisen erst zur Geburt nach Gelsenkirchen an“, so Lutz abschließend. Lutz sprach in dem Zusammenhang von einer Art „Geburtstourismus“, der sich abzeichne. Ein Grund dafür sei der hohe medizinische Standard hier in Deutschland.

Ursachen Säuglingssterblichkeit: Frühgeburten, Fehlbildungen, Anomalien, Deformitäten

Den Statistikern zufolge starben 2021 in Nordrhein-Westfalen 581 Säuglinge; das waren fünf mehr als ein Jahr zuvor (2020: 576). Im ersten Lebensjahr fanden demnach 267 Mädchen und 314 Jungen den Tod. Verglichen mit früheren Jahrzehnten liegt die Säuglingssterblichkeit in Nordrhein-Westfalen heutzutage auf einem niedrigeren Niveau: Um das Jahr 1990 war sie etwa doppelt und in den 1970er-Jahren sogar etwa sieben Mal so hoch wie im Jahr 2021.

Sowohl im Jahr 2020 als auch 20 Jahre zuvor waren „bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben”, häufigste Todesursache der im ersten Lebensjahr gestorbenen Kinder. Gemeint sind damit „Frühgeburten an der Grenze zur Lebensfähigkeit ab der 23. Schwangerschaftswoche“, wie Marcus Lutz erklärt: 2020 waren sie in 51,4 Prozent dieser Todesfälle von Säuglingen ursächlich (2000: 45,5 Prozent). Zweithäufigste Todesursache waren mit einem Anteil von 32,6 Prozent angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien (2000: 26,5 Prozent).