Gelsenkirchen. Hunger, Gewalt, Streik: Im Wissenschaftspark referierte Professor Dr. Nicolai Hannig darüber, wie Gelsenkirchener die Nachkriegsjahre erlebten.

Hungersnöte, Protestbewegungen, aber auch zunehmende Kriminalität kennzeichneten die Nachkriegsjahre im Ruhrgebiet. „Wir haben Hunger“ stand auf den Schildern bei Protestmärschen in den Städten. Professor Dr. Nicolai Hannig, Wissenschaftler an der Universität Darmstadt, ging im Wissenschaftspark der Frage nach, wie Menschen die Besatzungszeit zwischen 1945 und 1948 erlebten, was Proteste und Gewalt im Nachkrieg auslösten. Eingeladen hatte das Institut für Stadtgeschichte.

Gelsenkirchen und die Region nach dem Krieg: 300.000 Bergleute im Streik

Der Krieg war gerade beendet, Bürger hatten unter der Nazi-Diktatur verlernt, sich zu wehren, konnten ihren Protest nicht auf der Straße ausdrücken. „Die Straßenpolitik wurde wieder salonfähig“, sagt Nicolai Hannig. Hunger und schlechte Bezahlung trieb Menschen wieder auf die Straße. 300.000 Bergleute an der Ruhr hatten ihre Arbeit niedergelegt. Viele hätten den Hunger als Strafe für die Gewalt angesehen, die von Deutschen im Krieg ausgeübt worden sei.

Professor Dr. Nicolai Hannig, Wissenschaftler an der Universität Darmstadt, ging im Wissenschaftspark der Frage nach, wie Menschen die Besatzungszeit zwischen 1945 und 1948 erlebten.
Professor Dr. Nicolai Hannig, Wissenschaftler an der Universität Darmstadt, ging im Wissenschaftspark der Frage nach, wie Menschen die Besatzungszeit zwischen 1945 und 1948 erlebten. © Unbekannt | Foto: TU Darmstadt

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Gegengewalt drückte sich häufig durch Plünderungen und Straftaten aus. Die Besatzer befürchteten, dass die Bevölkerung gegen die Militärregierung revoltieren könnte. So hatte General Montgomery, Oberbefehlshaber der britischen Besatzungstruppen, Bürgern im Dezember 1945 etwa 2000 Kalorien als Ration zugesagt. Im März 1946 mussten die Menschen mit 1014 Kalorien auskommen. Fett, Zucker und Fischrationen wurden um ein Drittel gekürzt. Der harte Winter 1947 mit bis zu Minus 30 Grad setzte den Menschen zusätzlich zu.

Geschichtsprofessor: Menschen glaubten, dass der Hunger verordnet gewesen ist

Dem strengsten Winter folgte der wärmste Sommer des Jahrhunderts. In Kombination mit Lieferengpässen machten sich mehr und mehr Protestbewegungen bereit, die sich gegen die desolate Versorgung wandten. Die Versorgung war abhängig von den Importen der Briten, die ihre Waren überwiegend aus den USA bezogen. „Eine Tatsache“, so der Wissenschaftler, „die den meisten Deutschen nicht bekannt war.“ Bei britischen Besatzern war die Angst vor Sabotage groß, die als Racheaktionen von Alt-Nazis geplant sein könnten.

Gelsenkirchen in Trümmern nach dem Zweiten Weltkrieg: Zerstörte Wohn- und Geschäftshäuser, im Hintergrund die Altstadtkirchen.
Gelsenkirchen in Trümmern nach dem Zweiten Weltkrieg: Zerstörte Wohn- und Geschäftshäuser, im Hintergrund die Altstadtkirchen. © Unbekannt | Foto: Institut für Stadtgeschichte

Wie verzweifelt mitunter die Bevölkerung auf die Mangelversorgung reagierte, war an einer Hauswand zu lesen. „Lieber satt und Nazischwein als Demokrat mit Hunger sein“ hatten Bewohner dort aufgemalt. Als Hauptzielscheibe, glaubt Hannig, habe die Bevölkerung nicht die Besatzer, sondern die deutsche Ernährungsverwaltung gesehen: „Viele waren der Auffassung, dass der Hunger verordnet worden ist.“

Gewalt auf Gelsenkirchener Straßen in Nachkriegsjahren: Raub, Diebstahl hundertfach

In den ersten Nachkriegsjahren nahm auch die Gewalt in den Städten zu. In Nachtwachen und Bürgerwehren wurde Gewalt mit Gegengewalt beantwortet. So führte die Kriminalinspektion 1 in Gelsenkirchen zwischen dem 1. und 15. Juli 1945 414 Delikte wie Raub, Körperverletzung und Diebstahl auf. Bewaffnet war die deutsche Polizei in diesem Zeitraum noch nicht. Trotz Zunahme an Protesten, glaubt Nicolai Hannig, habe man schon bei Plakat-Ankündigungen darauf hingewiesen, strengste Disziplin zu wahren. Doch neben disziplinierten Hungermärschen gab es 1947 auch Ausschreitungen bei Zusammenrottungen. So wurden Warenvorräte geplündert und Händler gezwungen, ihre Preise zu reduzieren. Baumaterial, Gartenzäune wurden gestohlen, Baumbestände gefällt, Stadtwälder gerodet.

Experte für Gewaltgeschichte

Professor Dr. Nicolai Hannig ist in Castrop-Rauxel aufgewachsen. Über Stationen in Bochum, Gießen, Münster und München lehrt der 41-Jährige heute an der Uni Darmstadt. Sein Fachgebiet: Neuere Geschichte und Gewaltgeschichte. Seine Habilitation schrieb er über das Thema „Naturkatastrophen in Europa und der Welt ab dem 18. Jahrhundert“.

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Auch gegen Überschwemmungen kämpften die Menschen. Bombenkrater liefen voll. Während der britischen Besatzungszeit wurden 47.000 Tuberkulosefälle gezählt. Die Hungerrevolten ebbten allmählich ab, nicht aber der Protestgeist der Deutschen. „Stoppt die Demontage – sonst gewinnt ihr den Frieden nicht“ war auf einem Plakat bei einer Demo in Gelsenkirchen zu lesen. „Allmählich“, konstatiert der Wissenschaftler, „eroberten sich die Menschen die Straße zurück, als langsamen Schritt zur demokratischen Gesellschaft.