Gelsenkirchen. Fünf Kilometer Akten am laufenden Band, damit kann das Stadtarchiv Gelsenkirchen aufwarten – und mit allerlei Kuriositäten. Ein Besuch.

In diesen drei Kellerräumen lagert das Gedächtnis der Stadt Gelsenkirchen. Fünf Kilometer Akten am laufenden Band, dazu Pläne und auch ein paar Kuriositäten. „Unter Tage“, so wie es Dr. Daniel Schmidt, der Leiter des Instituts für Stadtgeschichte, nennt, verfügt das Stadtarchiv über rund 200 Quadratmeter Fläche.

Es ist ein Mikrokosmos, gefühlt fernab von Zeit und Raum – eigenes Klima inklusive. Die Luftfeuchtigkeit muss möglichst gering sein, die Temperatur immer gleich moderat. Damit die Akten bestmöglich aufbewahrt sind. Aus Vorsicht muss auch jede Akte, bevor sie herkommt, kontrolliert werden. „Das Schlimmste ist, wenn Unterlagen von Schimmel befallen sind. Der könnte eingeschleppt werden“, erklärt Claire Duwenhögger, Diplom-Archivarin.

4500 Bände Personenstandsregister

Auf den ersten Blick fällt es schwer, sich zu orientieren. Rechts stehen noch ungeöffnete Kartons, Akten, die gerade erst angekommen sind. „Das sind die Personenstandsregister aus dem Standesamt.“ Unterlagen, die regelmäßig kommen. Denn es gibt eine Regel: Es gilt 100 – 80 – 30. Das bedeutet, es kommen die Unterlagen von Geburten, die 100 Jahre zurückliegen, Ehen, die 80 Jahre zurückliegen, und Sterbefällen, die 30 Jahre zurückliegen. „Da haben wir mittlerweile 4500 Bände“, erklärt Schmidt, dass diese Unterlagen besonders häufig angefragt werden. Die Ahnenforschung interessiere immer mehr Menschen.

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Ein Mitarbeiter widmet sich gerade einer solchen Anfrage. Eine Heiratsurkunde liegt auf dem Tisch, ist zum Abfotografieren bereit. Für jeden Anlass hat es einst ein Buch gegeben, in das der Beamte das Ereignis einträgt. In einer Spalte daneben bleibt Platz für Querverweise. So steht etwa neben dem Eintrag über die betreffende Hochzeit, wann das Paar Kinder zur Welt gebracht hat. Im Geburtenregister dagegen finden sich Einträge über Todesfälle.

Die Beamten hatten anspruchsvolle Jobs

Ein Beispiel: Neben dem Eintrag der Geburt ist vermerkt, dass der betreffende junge Mann im Krieg gefallen ist. Schon wird deutlich, vor rund 100 Jahren war der Aufgabenbereich der Beamten durchaus anspruchsvoll. „Die haben wahrscheinlich mit einem System von Karteikarten gearbeitet.“ Anders hätte man wohl kaum den Überblick behalten können.

Hier, im „Keller 8“, lagern unter anderem die ältesten Akten des Stadtarchivs. Einige wenige gehen zurück ins 17. Jahrhundert. „Aber ein Großteil setzt im 18. Jahrhundert und mehr noch im beginnenden 19. Jahrhundert ein“, erklärt Claire Duwenhögger. Dann sucht sie ein Beispiel heraus, eine Urkunde von 1806. Die sieht fantastisch aus – und ist doch dem Inhalt nach recht banal. Da geht es um einen Herrn Kleine Grothehaus, dem etwas Land überschrieben wurde.“

Fünf Prozent aller Akten werden behalten

Einen riesigen Bestand machen die Personalakten aller städtischen Beschäftigten ab dem Ende des 19. Jahrhunderts aus. „Damit werden wir noch Jahre beschäftigt sein“, sagt Daniel Schmidt. „Die werden bewertet, weil wir auch nicht alles behalten können.“ Eigentlich sogar das wenigste. „Wir können nur rund fünf Prozent aller Akten aufbewahren.“ Im Falle der Personalakten versuche man, besonders aussagekräftige Akten auszuwählen aus allen Tätigkeitsbereichen. So entsteht am Ende ein historisch relevanter Querschnitt.

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Es mag anachronistisch wirken, dass hier das Wissen in Akten konserviert ist. Und natürlich ist das Stadtarchiv nicht aus der Welt. Die Digitalisierung jedoch verschlingt Zeit und Ressourcen. Beides ist nur limitiert vorhanden. Gerade etwa, erzählt Daniel Schmidt, gebe es ein Digitalisierungsprojekt, in dem ein externer Dienstleister binnen zwei Jahren die Rats- und Ausschussprotokolle ab der Mitte des 19. Jahrhunderts digitalisiert. Die Kosten dafür: rund 50.000 Euro. Möglich macht das ein Förderprojekt des Bundes.

Werksakten bilden Industriegeschichte ab

Weiter hinten im Raum gibt es mehrere Regale voller Werksakten. Wie alle hier stehen sie dicht an dicht. Dreht man an einer Kurbel an einem Regal, kann man es auf Schienen bewegen, so dass man in den entstandenen Gang treten kann. „Das sind riesige Bestände, die mit der Industriegeschichte Gelsenkirchens zu tun haben“, so Schmidt. Genau das macht sie interessant. Ein Ordner etwa beinhaltet alle Papiere rund um den Bau eines Ringofens auf der Zeche Ewald im Jahr 1909. Ein echtes Schmuckstück der Industriegeschichte.

Es geht ein Magazin weiter. Die Stadthistoriker haben die Besucher neugierig gemacht. Im „Keller 6“ liegen auch Kuriositäten. Tatsächlich: Hinten links kann man in der Stadtgeschichte stöbern. Da ist eine alte Holzkiste, die noch aus der Zeit stammt, als die Bestände in den Kriegswirren zu ihrem Schutz ausquartiert werden mussten. Darin befinden sich historische Stempel der Gemeinde Gelsenkirchen.

Ein Fotobuch aus der Vergangenheit

In einem Regal ruht ein großes, dickes und schweres Buch. „Das war eine Festgabe für August Starke, den Bergwerksdirektor von Consol, im Jahr 1906. Da haben sich die Arbeiter für ihn fotografieren lassen. Das war damals High-End-Technologie“, weist der Historiker auf die besondere Qualität der Fotografien hin. Das Werk macht deutlich, Fotobücher sind keine Erfindung der digitalisierten Neuzeit.

In einem Regal links finden sich noch einige besondere Schmankerl. Von wissenschaftlicher Relevanz sind die eher nicht. Unterhaltsam aber umso mehr. Vermutlich. Perfekt ist das Erlebnis nicht. Denn die zahlreichen Schallplatten aus der Nachkriegszeit, auf denen Bergleute ebenso musizieren wie eine Hasseler Schlager-Band, kann man nur von außen bestaunen. Abspielen kann man sie nicht. Und darauf zu warten, dass alles, was hier zu finden ist, irgendwann einmal online steht, lohnt wohl auch nicht. „Ein virtueller Lesesaal, das ist kaum darstellbar“, sagt Daniel Schmidt. „Das wäre ein Jahrhundertprojekt.“