Gelsenkirchen. Georg Kreisler arbeitet sich 1961 an der Stadt Gelsenkirchen ab. Was zunächst für viel Empörung sorgt, erlangt mit den Jahren Kultstatus.
An diesem Dienstag, dem 24. Oktober 1961, geschieht etwas, das die Stadt lange und immer wieder umtreibt: Der Norddeutsche Rundfunk spielt ein neues Lied von Georg Kreisler, das „Gelsenkirchener Duett“, in welchem er sich zuweilen sarkastisch, zuweilen kokett an der Stadt Gelsenkirchen abarbeitet. Für besondere Entrüstung sorgt die Passage: „Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen! Nicht in Berlin und nicht in New York und nicht in Paris! Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen! In unserem urgemütlichen Grubengasparadies!“ Keine Frage für die Stadtoberen: Das muss Konsequenzen haben.
Dr. Daniel Schmidt vom Institut für Stadtgeschichte hat dafür Verständnis: „Gelsenkirchen ist zu dieser Zeit auf seinem Zenit. Die Stadt wächst, ist sehr reich, hat rund 400.000 Einwohner und eine wachsende Wirtschaft mit 100.000 Industriearbeitern. Das ist die Zeit des Wirtschaftswunders. Gelsenkirchen ist zu dieser Zeit die zweitgrößte Stadt Westfalens und das industrielle Herz des Ruhrgebiets. Man ist damals der Auffassung, das muss so auch akzeptiert werden. Das Erscheinungsbild ist eben nicht Kohlenstaub und Grubengas geprägt.“
Auch interessant
Protestbrief des Oberstadtdirektors
Auch interessant
Noch bevor sich die politischen Gremien mit der Causa befassen können, schreibt Oberstadtdirektor Hans Hülsmann einen Protestbrief an den Intendanten des NDR „gegen die dem Ansehen der Stadt abträgliche Sendung“. Mehr noch: „Nicht nur die Gelsenkirchener Hörer, sondern alle, die Gelegenheit hatten, die Stadt in den vergangenen Jahren zu besuchen, mussten den Eindruck gewinnen, dass die Schöpfer des Chansons entweder ihre einseitigen Erfahrungen im vorigen Jahrhundert gesammelt hatten oder persönliche Ressentiments auszuräumen versuchten.“
Georg Kreisler verfasste auch das Stück „Lola Blau“
Georg Kreisler, geboren am 18. Juli 1922 in Wien, gestorben am 22. November 2011 in Salzburg, war ein Komponist, Sänger und Dichter mit besonderem Blick auf die Welt und der Traute, Themen sarkastisch, ja geradezu zynisch anzugehen. Vieler seiner Werke sind sehr bekannt. Ein Beispiel: Das Stück „Lola Blau“ mit einigen Liedern, die Kultstatus haben. Wegen seines besonderen Charmes ist auch das Lied „Tauben vergiften im Park“ von großer Bekanntheit.
Die Platte mit dem Gelsenkirchen-Lied übrigens hat zwar Seltenheitswert, ist aber hier und da im Internet noch zu haben und auch recht erschwinglich. Wer nur mal hinein hören möchte, kann das auf YouTube tun.
Hier einige auf Gelsenkirchen direkt bezogene Passagen: „(...) Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen! / Herrliche Stadt der großdeutschen Kohlenbergwerkindustrie / Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen! / In unserer einzigartigen Brennstoffdemokratie! / Lieblich schweben durch die Luft die schwarzen Dämpfe / Und mit heiterem Gesang / Nimmt man Kohlen in Empfang / Wer zu lang dort lebt, bekommt beim Atmen leichte Krämpfe / Aber wer lebt dort schon lang? / Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen / Fahren auch Sie, statt an die Riviera, im Urlaub zu uns! / Ruhen Sie aus im Schatten der Meiler / Auf einem Strand von Anthrazit! / Statt der Seeluft atmen Sie Pressluft / Oder Kohlendioxyd! / Unsere Hochöfen sind im strengsten Winter warm / Schließen Sie Freundschaft mit unserem Gelsenkirchener Charme! / Wo ist der Kinobesuch und der Alkoholismus erheblicher? / Wo ist die Bettwäsche grau und die Seifenreklame vergeblich? / Wo verspottet man Diogenes, weil er zufrieden war mit einer Tonne? / Wo wird der Vierjahresplan erfüllt – alle vier Jahre sehen wir die Sonne? / Wem klingt der Bohrhammerlärm täglich durchs rußige Ohr? / Wer hat den norddeutschen Ernst verbunden mit Schweizer Humor? / Ja sehen Sie, das hat / Nur uns‘re Heimatstadt! / Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen! / (...) Unser Theater spielt jeden Tag ein anderes Stück! / Ja, in der Bildung steh‘n wir vor Niemand and’rem zurück / Und die Bildung kann man gar nicht übertreiben / Doch das Fernsehn hilft uns sehr / Film und Funk sogar noch mehr / Gute Bücher haben wir – nur das Lesen und das Schreiben / Fällt uns noch manchmal recht schwer (…)
Was aber hat den bekannten Liedermacher dazu bewogen, sich in einer für ihn recht typischen Weise ausgerechnet mit Gelsenkirchen zu befassen? Ganz sicher weiß man das nicht. Aber man hat einen starken Verdacht: Die Inspiration war wohl der Ärger darüber, dass die Stadt Gelsenkirchen seiner damaligen Frau Topsy Küppers ihr Engagement an der Städtischen Bühnen gekündigt hatte.
Eine Schallplatte soll verhindert werden
Auch interessant
Am Montag, 30. Oktober, befasst sich der Haupt- und Finanzausschuss der Stadt noch einmal mit dem Lied, das man als „Spottlied“ bezeichnet – und empfindet. Während Hans Hülsmann von seinem Protestbrief berichtet, gibt es auch Stimmen, die die Meinung vertreten, es sei besser, die Angelegenheit „totzuschweigen“. Abschließend einigt man sich auf zwei Punkte: Man will untersuchen, wie es zu dieser Ausstrahlung überhaupt kommen konnte und dass „die Verwaltung selbstverständlich etwas unternehmen werde, wenn sie etwas davon höre, dass dieses Stück auf Schallplatten aufgezeichnet werden solle.“ Und weiter heißt es im Sitzungsprotokoll: „Die Verwaltung habe in dieser Hinsicht ihre Fühler ausgestreckt und glaube, rechtzeitig von einer solchen Absicht zu erfahren.“
Auch interessant
Natürlich klappt dies nicht. Schon weil die Stadt selbst später gegen die einstigen Vorsätze verstößt. In den ausgehenden 1980er Jahren nämlich findet man zu einem selbstironischen Umgang mit den Stadtklischees – und lässt das Lied selbst auf eine Schallplatte pressen. Auf deren Rückseite sind Oberbürgermeister Kurt Bartlewski und Oberstadtdirektor Dr. Klaus Bussfeld zudem auf einer schwarz-weiß Fotografie zu sehen – inmitten einer Kulisse aus wahren Schätzen des „Gelsenkirchener Barocks“. „Ironisierung auf Abstand fällt immer leichter“, weiß Dr. Daniel Schmidt.
Auch interessant
401 ist fast ein Déjà-vu
Wer nun die Aufregung von einst belächelt, der erinnere sich an die Woge der Empörung, als eine Studie die Lebensqualität in zahlreichen deutschen Städten verglich und eine Art „Hitparade“ der Wohlfühloasen erstellte. Dass die Stadt hier den 401. und letzten Platz belegt, trifft viele Gelsenkirchener hart. Dass es bei der nächsten Untersuchung der 400. Platz ist, macht die Sache auch nicht besser. Jedoch, eines geht rascher als damals: der ironische Umgang mit der Zahl 401. Die hat fast einen gewissen Kultstatus erhalten. Selbstbewusst schert man sich nicht mehr darum, was andere über die Stadt und ihre Bürger denken. Das gibt es eben auch nur bei uns in Gelsenkirchen.
- Verfolgen Sie die aktuelle Entwicklung zum Coronavirus in Gelsenkirchen in unserem Newsblog
- Lesen Sie mehr Geschichten aus Gelsenkirchen
- Oder folgen Sie der WAZ Gelsenkirchen auf Facebook