Gelsenkirchen. Gelungener Wahlkampfauftritt von Annalena Baerbock in Gelsenkirchen. Die Kanzlerkandidatin der Grünen scheute nicht den direkten Bürgerkontakt.

Die offizielle Ansprache ist gerade beendet, da wartet mit den Zuschauerfragen noch die letzte harte Prüfung auf Annalena Baerbock. Bis dahin hatte die Kanzlerkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen exakt 26 Minuten frei und viel mit den Händen geredet und den über 400 Zuhörerinnen und Zuhörern die wichtigsten Ziele erläutert, was passiert, wenn sie tatsächlich die Regierungsverantwortung übernehmen würde. Dann kommt die erste Frage aus dem Publikum. Und die ist kritisch. Doch Baerbock sucht in diesem Moment die Nähe, geht von der Bühne auf die Fragestellerin zu. Sie schaut ihr in die Augen, spricht in verbindlichem Ton. Es ist in wahrstem Sinne des Wortes eine persönliche Antwort, die Baerbock da gibt. Eine Wahlkämpferin geht auf Tuchfühlung.

Stufen zur Altstadtkirche werden zur sonnenüberfluteten Sitztribüne

Sie steht auch für Toleranz und ein „Deutschland der Vielen“: Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidatin der Grünen, sprach am Donnerstag in Gelsenkirchen vor einer Regenbogenfahne.
Sie steht auch für Toleranz und ein „Deutschland der Vielen“: Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidatin der Grünen, sprach am Donnerstag in Gelsenkirchen vor einer Regenbogenfahne. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Die Sonne überflutet an diesem sonnigen Donnerstagnachmittag in der Altstadt auch die Treppe, die zur evangelischen Altstadtkirche führt. Sie wird kurzerhand zur Sitztribüne umfunktioniert. Erst scheinen die Interessenten aber eher spärlich in Richtung jener Bühne zu tröpfeln, die rundherum offen ist und daher von allen Seiten Sichtmöglichkeiten bietet. Als aber Felix Banaszak, der Landesvorsitzende der Partei, dann um kurz nach halb vier zum Mikrofon greift, hat sich der Heinrich-König-Platz dann doch noch gut gefüllt.

Etwas abseits steht Bianca Herms. Sie ist ganz bewusst zu dieser Wahlkampf-Veranstaltung gekommen. Weil sie Annalena Baerbock mag und auch schätzt. „Sie wirkt sympathisch und kompetent, hat eine positive Ausstrahlung“, zählt die Gelsenkirchenerin auf. Und sie komplettiert ihr Urteil mit einer Bewertung, nach der jeder Politiker lechzt: „Sie ist authentisch.“ Einen Einfluss könnte der bevorstehende Auftritt auch haben: „Ich bin mir nämlich noch nicht ganz sicher, wen ich wählen werde.“

„Ich weiß schon, dass ich die Grünen wähle“

Zum ersten Mal in Fleisch und Blut sieht auch Andreas Spieker seine Bundesvorsitzende vor sich. Denn der Mann aus Herne ist seit über drei Jahrzehnten Mitglied bei den Grünen. „Die kurzen Auftritte im Fernsehen reichen mir aber nicht, um mir ein echtes Bild zu machen“, sagt Spieker. „Ich will jetzt endlich einmal das Original erleben.“

Das sieht auch Meinhard Siegel aus Rotthausen so, der mit seiner Frau in die Altstadt gekommen ist. Die Kritik, die seit Wochen aus dunkelsten Wahlkampf-Wolken auf Baerbock niedergeprasselt ist, sei „unter der Gürtellinie gewesen“, findet Siegel. „Und das wohl nur, weil sie eine Frau ist.“ Einfluss auf seine Wahlentscheidung hat dieser Auftritt nicht. „Ich weiß schon, dass ich die Grünen wähle“, sagt Siegel. Denn gerade beim Thema Klimaschutz seien ihm die anderen großen Parteien viel zu ähnlich und viel zu zögerlich.

Baerbock lässt die Gelsenkirchener Kandidatin Irene Mihalic zu Ende sprechen

Höflichen Applaus spendet er auch, als Irene Mihalic die Bühne erklimmt. Sie sitzt bereits seit acht Jahren im Deutschen Bundestag und ist auch bei diesem Urnengang die Direktkandidatin der Grünen für den Wahlkreis Gelsenkirchen. Sie gibt nicht nur ein öffentliches Liebesbekenntnis für ihre Heimatstadt, sondern wolle auch weiterhin „wahrnehmbare und laute Stimme Gelsenkirchens in Berlin“ sein. Den dicksten Applaus erhält sie nach ihrem Statement zur Integration von Einwanderern: „Wir wollen den Rattenfängern am rechten Rand die Stirn bieten. Wir stehen als Gesellschaft zusammen und lassen uns nicht spalten.“

Um 15.57 Uhr taucht dann Baerbock auf. Im Schlepptau hat sie einen kleinen Tross aus TV-Medienvertretern und Sicherheitsleuten. Doch höflich wie sie ist, nimmt sie erst noch Platz und lässt Mihalic ihre Gedanken zu Ende bringen. Um 16.03 Uhr schreitet die Kanzlerkandidatin dann in den Mittelpunkt. Zum cremefarbenen Pullover trägt sie einen dunklen, langen Rock und schwarze Stiefeletten. Und die politischen Botschaften, die sie gleich raushaut, die sitzen.

Forderung nach einer Kindergrundsicherung stößt auf viel Zustimmung

So wird gejubelt, als sie verspricht, dass sie die Spitzenverdiener dieses Landes nicht um 10 Milliarden Euro entlasten wolle, wie es ihr CDU-Kontrahent Laschet vorhat. „Dieses Geld wollen wir lieber in eine Kindergrundsicherung investieren“, sagt sie. Und gerade die vielen Frauen im Publikum nicken da zustimmend. Deswegen werde es mit ihr auch wieder eine Vermögenssteuer und eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes geben. Was man verspreche, müsse ja auch irgendwie finanziert werden, sagt sie.

Um 16.29 Uhr ist ihre einstudierte Rede, die sie so oder so ähnlich in den vergangenen Wochen schon mehrere Dutzend Male gehalten hat, dann vorbei. Es gibt einen langen, herzlichen Applaus. Dann folgen besagte Publikumsfragen. Und auch diese potenzielle Klippe umschifft Kapitänin Baerbock mit der Gelassenheit und Routine einer alten Seebärin. Dann muss sie los. Der nächste Auftritt wartet. In Köln. Und auch die Menschen dort mögen es ja besonders gern, wenn man zu ihnen auf Tuchfühlung geht.