Gelsenkirchen. Kliniken sollen sich stärker spezialisieren. Was bedeutet das für Gelsenkirchen, was sagt ein externer Experte dazu? Wir haben Zahlen und Fakten.
Die vom Gesundheitsministerium angekündigte Krankenhausreform setzt auf Spezialisierung statt Doppelstrukturen. Was heißt das für Gelsenkirchen? Die Stadt hat mit ihren 262.000 Einwohnern sechs Kliniken mit insgesamt 2.325 Betten. Zwei kleinere Häuser, das St. Josef Hospital in Buer und das Elisabeth Krankenhaus in Erle, sind bereits klar spezialisiert auf Geriatrie und Psychiatrie. Die anderen vier – darunter das zertifizierte überregionale Traumazentrum am Bergmannsheil Buer – halten alle Orthopädie und Unfallchirurgie vor. Ebenfalls alle vier Häuser, zwei im Stadtsüden in elf Auto-Minuten Entfernung voneinander, zwei im Norden in sieben Minuten Auto-Entfernung, bieten Allgemein- und Viszeralchirurgie inklusive komplexen Operationen an.
Onkologie, Kardiologie und Geriatrie an mehreren Standorten
Auch interessant
Stationäre geriatrische Behandlungsangebote gibt es an drei Standorten – an den Evangelischen Kliniken im Stadtsüden sowie am Elisabeth und St. Josef im Stadtnorden. Onkologische Versorgung bieten ebenfalls vier Häuser an, Marienhospital, EVK und Bergmannsheil mit eigenen Kliniken, das St. Marien Hospital Buer als Teil von Zentren. Kardiologie bieten ebenfalls alle vier Häuser an, die beiden größten – Marienhospital und Bergmannsheil – mit klarem Schwerpunkt und entsprechender Ausstattung.
Was sagt ein externer Experte dazu? Wir fragten David Scheller-Kreinsen, Referatsleiter Stationäre Versorgung bei AOK-Bundesverband.
Was der Krankenkassenexperte dazu sagt
Herr Scheller-Kreinsen, welche der Doppelstrukturen macht Ihrer Einschätzung als externem Experten nach Sinn, wo wäre weniger mehr? Wo ist die Spezialisierung besonders wichtig?
David Scheller-Kreinsen: Der Zusammenhang zwischen Fallzahlen einer Klinik bei einem bestimmten Eingriff und den Qualitätsergebnissen ist für eine Reihe komplexer Krankheitsbilder zweifelsfrei nachweisbar und in Studien belegt. Im Bereich der Onkologie und Herzinfarktversorgung lassen sich durch Spezialisierung und Bündelung von Leistungen an weniger Standorten viele Komplikationen, zum Teil gar Todesfälle vermeiden. In zertifizierten Onkologie-Zentren mit einer höheren Behandlungsroutine können die Sterblichkeit bei Brustkrebs (28% weniger Todesfälle), die 30-Tage Sterblichkeit nach Darmkrebs-OPs (18% weniger Todesfälle) oder die Krankenhaussterblichkeit nach Lungenkrebs (39% weniger Todesfälle) signifikant gesenkt werden. Ein anderes Beispiel: Immer noch fehlt in über 40 Prozent der Kliniken in Deutschland, die Herzinfarkte versorgen, ein Linksherzkatheterlabor in 24h Bereitschaft. Die Behandlungsmöglichkeiten und damit auch die Überlebenschancen von den Patienten hängen damit von der Tageszeit und Besetzung ab. Das ist unverständlich und sicher nicht im Sinne der Patientensicherheit.
Welche Basisangebote sollte – vorausgesetzt, jede Klinik bleibt überhaupt erhalten – jedes Haus vorhalten dürfen?
Die AOK hat sich jüngst öffentlich gemeinsam mit unterschiedlichen Krankenhausträgern für eine Neuordnung und Modernisierung der Krankenhausstrukturen eingesetzt. Wesentlicher Gedanke ist dabei, dass wir uns von dem Blick auf die einzelne Einrichtung bzw. den einzelnen Versorgungssektor lösen müssen. Unter dem Titel „Veränderung ermöglichen“ sprechen wir uns daher gemeinsam mit den Krankenhäusern für die Umstellung der bisherigen, sektorenbezogenen Bedarfsplanung aus, die noch streng nach stationären und ambulanten Leistungen unterscheidet. Stattdessen müssen Versorgungsaufträge regional vergeben werden und damit den Weg frei machen für passgenaue regionale Versorgungs- und Vergütungsvarianten, die sich am regionalen Bedarf orientieren. Diese Vergütungsvarianten können auch regionale Versorgungsnetzwerke umfassen, die gemeinsam Verantwortung für Kosten und Qualität der Versorgung der Bevölkerung tragen, um eine bessere Verzahnung ambulanter, stationärer und digitaler Angebote zu erreichen.
Welche konkreten Verbesserungen würde die extreme Spezialisierung für das Personal bieten? Das ist ja eines Ihrer entscheidenden Argumente für die Spezialisierung der Häuser.
Auch interessant
Im internationalen Vergleich haben wir bezogen auf die Bevölkerung nicht zu wenige Pflegekräfte und Ärzte, sondern finden uns im oberen Mittelfeld. Dennoch ist die Arbeitsbelastung in den Kliniken für das Personal sehr hoch und auch viele Patienten erleben in den Kliniken eine Unterbesetzung – insbesondere in den Randzeiten. Das hat viel mit der Verteilung des Personals zu tun. Pflegekräfte und Ärzte sind auf zu viele kleine Einheiten verstreut, denen leider oft ein klar am regionalen Bedarf orientiertes Leistungsportfolio und abgestimmtes Versorgungskonzept fehlt. Vorteile einer Konzentration und Spezialisierung für das Personal wären unter anderem: Belastungsspitzen können in größeren Einheiten besser abgefangen werden, spezialisierte Teams schaffen mehr Sicherheit, Personal-Vorhaltung für Akutfälle lässt sich effektiver organisieren, Digitalisierungs- und Delegationskonzepte sind in großen Einheiten einfacher einzuführen und können das Personal entlasten, Weiterbildungs- und Spezialisierungsmöglichkeiten können angeboten werden und steigern die Jobzufriedenheit. Ganz wichtig zudem: Wissenstransfer in die Wissenschaft und aus der Wissenschaft kann effektiv organisiert werden. Davon profitiert das Personal, das ja die beste medizinische Versorgung für die Patienten erreichen möchte.
Auch interessant
Als Krankenkassen-Vertreter haben sie notwendigerweise finanzielle Interessen an einer Reduzierung von Kliniken. Wieviel Geld könnte eine Spezialisierung und Fokussierung von Kliniken inklusive Ausbau ambulanter Kapazitäten ersparen?
Zunächst werden für eine qualitätsorientierte Neuordnung der Versorgung Investitionen benötigt. Hier sind die Bundesländer, aber auch der Bund gefordert. Als Orientierung: Dänemark hat fast 6 Mrd. Euro für die Modernisierung seiner Krankenhaustruktur ausgegeben. Übertragen auf Deutschland wären das fast 80 Mrd. Euro. Diese Dimensionen zeigen klar: Wir können uns kein Verteilen von knappen Investitionsmitteln mit der Gießkanne leisten. Alle Akteure des Gesundheitswesens sind gefragt, die Modernisierung der Versorgungsstrukturen klug und zielgerichtet anzugehen. Die Krankenkassen werden dabei natürlich auch die Wirtschaftlichkeit im Auge behalten. Die Betriebsausgaben für die Krankenhausversorgung werden schließlich durch die Beiträge der Versicherten und Arbeitgeber geschultert. Daher sind zukunftsfähige und wirtschaftliche Versorgungsstrukturen essentiell.
- Verfolgen Sie die aktuelle Entwicklung zum Coronavirus in Gelsenkirchen in unserem Newsblog
- Lesen Sie mehr Geschichten aus Gelsenkirchen
- Oder folgen Sie der WAZ Gelsenkirchen auf Facebook