Gelsenkirchen. Warum in der Regierung „Schnarchnasen“ sitzen und neue Gesetze bei der EU-Südost-Migration nicht helfen. Gelsenkirchener Markus Töns im Gespräch.
Seit der ersten Bundestagswahl 1949 hat die SPD das Direktmandat in Gelsenkirchen geholt. Aber 2021 scheint nichts in Stein gemeißelt zu sein. Einfach zurücklehnen können wird sich Markus Töns, der 2017 erstmalig für die Sozialdemokraten in den Bundestag einzog, nicht. Was also hat der 57-jährige Europapolitiker in den vergangenen vier Jahren erreicht? Und was will er in einer möglichen nächsten Legislatur anpacken – in Sachen Klimawandel, EU-Südost-Migration oder Altschulden?
Herr Töns, wie haben Sie das Leben der Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener in den vergangenen vier Jahren verbessert?
Wir haben es zu Beginn der Legislaturperiode geschafft, den sozialen Arbeitsmarkt einzuführen. Dadurch haben wir viele Langzeitarbeitslose in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen bekommen. Allein über 800 Menschen in Gelsenkirchen haben dadurch eine neue Perspektive erhalten, trotz der hier so schwierigen Situation auf dem Arbeitsmarkt. Das sind viele schöne Erfolgsgeschichten. [Lesen Sie auch: Corona: 20 Prozent mehr Arbeitslosigkeit in Gelsenkirchen]
Und darüber hinaus?
Andere große Erfolge sehe ich bei der Grundrente, der Brückenteilzeit, der Mindestausbildungsvergütung, bei besseren Leistungen für Familien und der Abschaffung des Solis für 90 Prozent der Beschäftigten. Und darin, dass es uns mit Olaf Scholz gelungen ist, auf europäischer Ebene einen mehrjährigen Finanzrahmen auf die Beine zu stellen – mit einem Aufbau-Fonds, um die Krisen der Pandemie zu bewältigen. Die Deutschen sind immer noch die, die von der EU am meisten profitieren. 60 Prozent unserer Exporte gehen in die EU. Wir müssen deshalb dafür sorgen, dass wir die gesamte Europäische Union stabilisieren.
Den Eindruck, dass Deutschland am meisten von der EU profitiert, haben viele Menschen in Gelsenkirchen nicht unbedingt, wenn sie an die Probleme denken, die mit der EU-Freizügigkeit und der Migration aus Südosteuropa zusammenhängen. Wie haben Sie den Weckruf der fünf Bezirksbürgermeister – immerhin alles ihre Parteikollegen – erlebt, die gegenüber unserer Redaktion Ende Juli gefordert haben, dass das Thema endlich auf Bundes- und EU-Ebene angegangen wird?
Die Schilderungen der Bezirksbürgermeister sind richtig, die Frage ist aber, welche Konsequenzen man daraus zieht. Die Freizügigkeit kann man nicht in Zweifel ziehen. Sie ist verankert als eine der Grundfreiheiten der EU. Das ist nicht verhandelbar. Man würde den Menschen also Sand in die Augen streuen, wenn es heißen würde, auf rechtlicher Ebene etwas ändern zu wollen. Kommunen wie Gelsenkirchen müssen finanziell und personell ertüchtigt werden, um die Probleme angehen zu können. Da könnte der Bund mit einem Sonderfonds für jene Kommunen helfen, die von den Folgen der Armutsmigration so stark betroffen sind. [Lesen Sie auch: Was bei der Jugendarbeit in Gelsenkirchen schief läuft]
Warum ist so ein Fonds in den vergangenen Jahren nicht bereits gekommen? Die Probleme liegen seit Jahren auf dem Tisch.
Ich habe das Thema fast wöchentlich in Berlin eingebracht. Aber man muss auch bedenken, dass die Probleme mit der EU-Südost-Migration nur ein Dutzend deutscher Städte betreffen. Es ist also kein Problem der gesamten Republik, der Leidensdruck bei den anderen Parlamentariern ist da nicht so groß. Manche Sachen brauchen ihre Zeit – den sozialen Arbeitsmarkt auf die Beine zu stellen hat fast zehn Jahre gedauert. Das soll allerdings nicht heißen, dass wir noch weitere zehn Jahre warten müssen bis weitere Hilfen für die Bekämpfung der Folgen der Armutsmigration kommen.
Es wird also ein Ziel der nächsten Legislatur sein?
Ja, definitiv. Es ist das gemeinsame Ziel aller 16 Abgeordneten, die wir von der SPD im Ruhrgebiet haben. Wir sind eine Gruppe, die sich stark vernetzt hat und in Berlin Wirkung zeigt. Aber es ist ja nicht nur der Bund: Das Land NRW ist übrigens auch in der Verantwortung. Ich frage mich, warum das Landes-Innenministerium in den betroffenen Städten nicht deutlich mehr Polizisten einsetzt, um Verstöße zu ahnden?
Listenplatz 56
Markus Töns holte bei der letzten Bundestagswahl 38,3 Prozent – das schlechteste SPD-Ergebnis in Gelsenkirchen seit 1953. Sollte Töns seinen Wahlkreis dieses Mal nicht gewinnen, ist ein Einzug in den Bundestag für ihn ausgeschlossen: Er ist auf der NRW-Landesliste der SPD auf Platz 56.
Vor seinem Mandat als Bundestagsabgeordneter war Töns vom Juni 2005 bis zum Mai 2017 Landtagsabgeordneter. Töns studierte bis 1995 Politikwissenschaften in Münster. Er hat drei Kinder und wohnt in der Gelsenkirchener Innenstadt.
Die EU-Migration ist das eine, aber Gelsenkirchen fehlt auch viel Geld für viele andere große Aufgaben. Ein Altschuldenschnitt könnte helfen – aber wäre der nach den ganzen Kosten der Pandemie überhaupt noch realistisch?
Ich glaube ja. Olaf Scholz hatte ja schon einen konkreten Vorschlag zum Altschuldenschnitt gemacht, der aber an CDU und CSU gescheitert ist. Ihn nicht zu fordern, würde heißen: Wir brauchen eine andere Lösung für die Finanzierung der Kommunen und müssen mehr Geld ins System geben. Passieren muss auf jeden Fall etwas. Die Probleme der Kommunen werden ja nicht kleiner: Die Gewerbesteuereinnahmen sind durch die Pandemie eingebrochen. Wer gleicht das aus? Da braucht es einfach mehr Unterstützung von Bund und Land. Mittlerweile sollte schließlich auch bei den Menschen aus Kommunen mit geringer Schuldenlast angekommen sein: Die finanzielle Not in Städten wie Gelsenkirchen ist nicht entstanden, weil wir mit dem Geld um uns geworfen haben. Geld bräuchte Gelsenkirchen auch für ambitionierten Klimaschutz. [Lesen Sie auch: Mit diesen Ideen wollen Gelsenkirchener das Klima retten]
Die EU-Kommission hat vor einem Monat ihr „Fit for 55“-Programm präsentiert und erklärt, wie sie bis 2030 die Treibhausgasemissionen aus der EU um 55 Prozent sinken will. In Gelsenkirchen will die SPD 1000 Bäume pflanzen. Ist das angesichts solcher ambitionierten EU-Ziele wirklich die Art von Klimaschutz, die wir brauchen?
Ob 1000, 10.000 oder 100.000 Stück: Bäume kann man nie genug haben. Aber natürlich reicht das nicht, um wirksamen Klimaschutz zu betreiben. Wir sind dabei in Gelsenkirchen auf einem guten Weg – wir wollen den Klimahafen schaffen und haben Unternehmen wie Zinq, die testen wollen, ob ihre Abläufe auch mit Wasserstoff funktionieren. Damit dieser Wasserstoff auch grün ist, muss es in Deutschland aber gelingen, den Ausbau der erneuerbaren Energien besser hinzubekommen. Wir dürfen nicht weiter über Abstandsregeln von Windrädern sprechen. Leider saßen im Bundeswirtschaftsministerium in den vergangenen Jahren Schnarchnasen und Totalverweigerer.
Harte Worte. Woran machen Sie das fest?
Ein Beispiel ist: Das Ministerium hat sich verweigert, die Mieterinnen und Mieter beim CO2-Preis zu entlasten. Sie werden nun vollbelastet. Das werden auch Mietparteien in Gelsenkirchen in den Nebenkosten merken. Auch in der Pandemie war das Ministerium ein großes Ärgernis. Teilweise konnte eine Staatssekretärin nicht mal beantworten, wann genau die Corona-Hilfen beantragt werden können. Da merkt man doch, dass jemand so einen Laden nicht im Griff hat. Es ist aus meiner Sicht mit das am schlechtesten besetze Ministerium gewesen. [Lesen Sie auch:Corona-Hilfen: Gelsenkirchener plante 2,5-Millionen-Betrug]
Hand aufs Herz: Werden Sie Angela Merkel vermissen?
Nein. Im Verhältnis zu ihrer Fraktion hat sie in wichtigen Fragen wie dem Klimaschutz zwar eine deutlichere Haltung als ihre Fraktion. Aber sie hat auch vieles ausgesessen und dadurch manch einer europäische Krise sogar verschärft. Als Europa-Politiker wünsche ich mir einen Kanzler, der Europa versteht und die Rolle Deutschlands in Europa ausfüllt – und nicht nur dann agiert, wenn nichts mehr geht. Das ist auch eine Frage des Respekts gegenüber den 26 Mitgliedstaaten. Deshalb brauchen wir einen Kanzler, der mit jemandem wie Emmanuel Macron auf Augenhöhe reden kann. Wenn ich mir die drei Kandidaten anschaue, sehe ich da nur einen.