Gelsenkirchen. 60 Jahre nach dem Deutsch-Türkischen Anwerbeabkommen schickt sich der Sohn eines Gastarbeiters an, für Gelsenkirchen Verantwortung zu übernehmen.

Er ist hier unverkennbar zu Hause – der Löwe. Während der rote Horster Löwe bereits das Familienwappen der Herren von der Horst schmückte und später als Stadtteilwappen übernommen wurde, ist Ender Ulupinar erst seit 1998 ein Horster – und wie manche hier sagen – dennoch auch ein Löwe.

Zuvor lebte der Sohn türkischer Gastarbeiter in Hassel. Während des Spaziergangs durch Horst grüßen Nachbarn und Freunde, Bekannte und Geschäftsleute den kantigen 48-jährigen. Ulupinar ist bekannt in seinem Kiez, seiner Heimat, die er liebt, wie er sagt: Horst und Gelsenkirchen.

Zuletzt meldete sich Ulupinar mehrfach deutlich zu Wort, weil er – ähnlich wie die fünf Bezirksbürgermeister der Stadt im WAZ-Interview – die Zukunft Gelsenkirchens aufgrund der vielen Integrationsprobleme mit Zuwanderern aus EU-Südoststaaten in Gefahr sieht. Der Unternehmer aus dem Stadtnorden ist „aber keiner, der nur meckert und nicht selber zu handeln bereit ist“, wie Ulupinar über sich selbst sagt.

Beim Thema Migration aus EU-Südost wird Ender Ulupinar emotional

Nur zu gerne würde er etwa das Problemhaus an der Rüttgergasse kaufen, es abreißen und dort etwa Garagen hinbauen. Wegen Datenschutzbestimmungen bekomme er von der Stadt aber keine Auskunft darüber, wem die Schrottimmobilie gehört.

Ulupinar wird beim Thema Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union und den Folgeproblemen, die diese in Kommunen wie Gelsenkirchen verursacht, emotional, ja sogar regelrecht wütend.

Er erinnert sich an seinen Vater Yusuf, der 1967 wie viele andere Türken vor und nach ihm einst seine Heimat verließ, um seiner Familie durch in der Regel harte körperliche Arbeit ein besseres Leben zu bieten. In diesem Jahr jährt sich das sogenannte Deutsch-Türkische Anwerbeabkommen, das die Grundlage für die Arbeitsmigration war, zum 60. Mal.

„In Deutschland sind die Straßen aus Gold“

Als das Anwerbeabkommen mit der Bundesrepublik 1961 in Kraft trat, hatten die Menschen in der Türkei mehrere Wirtschaftskrisen hinter sich und erlebten erneut eine Zeit, die vor allem in den ländlichen Regionen von Armut und Arbeitslosigkeit geprägt war. Aus den Dörfern Anatoliens zogen Hunderttausende in die größeren Städte, zunächst innerhalb des eigenen Landes. In Istanbul seien die Straßen aus Gold, hieß es. Ähnliche Geschichten erzählte man sich aus Deutschland.

Die junge Bundesrepublik erlebte nur zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einen einzigartigen Wirtschaftsboom. Acht Millionen Vertriebene aus den heute in Polen und Russland liegenden Ostgebieten des Deutschen Reichs und drei Millionen Flüchtlinge aus der DDR reichten nicht, den Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Also schloss die Bundesrepublik mit wirtschaftlich ärmeren Ländern, bei denen man annahm, dass die Menschen sie bereitwillig für eine Weile verlassen würden, um anderswo Geld zu verdienen, sogenannte Anwerbeabkommen: 1955 mit Italien, 1960 mit Spanien und Griechenland – und 1961 mit der Türkei. Weitere Abkommen mit Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien sollten folgen.

„Wenn nötig, trete ich auch als Oberbürgermeisterkandidat in Gelsenkirchen an“

Ender Ulupinar erzählt stolz, wie sein Vater zunächst auf Zeche Hugo und später in Moers als Schließmeister sein Geld verdiente, wie seine Eltern dafür sorgten, dass Ender und seine beiden Geschwister sich „anpassten, integrierten, Berufe lernten, Karriere machten und Verantwortung übernahmen“.

Verantwortung, die der 48-Jährige auch bereit ist für Gelsenkirchen zu übernehmen – 60 Jahre nachdem die ersten türkischen Gastarbeiter hierherkamen. „Ich führe seit einiger Zeit viele Gespräche mit vielen Menschen in Gelsenkirchen, die mich darin bestärken und unterstützen, wenn nötig in vier Jahren auch als Oberbürgermeisterkandidat anzutreten“, sagt Ulupinar ernst.

Das Gelsenkirchen, das auch seine Eltern mit aufgebaut hätten, entwickle sich besorgniserregend. „Und das will ich nicht einfach hinnehmen“, so der großgewachsene Mann mit den markanten Gesichtszügen.

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„Es ist vielsagend, dass sich keiner unserer Berufspolitiker, weder aus dem Bundestag noch aus dem Landtag, der Gelsenkirchener Problemen und des Unmuts weiter Teile der Bevölkerung annimmt. Unsere Stadt geht vor die Hunde und sie schauen zu. Über 10.000 zugewanderte Rumänen und Bulgaren leben hier. Und viele von ihnen wollen weder arbeiten noch sich integrieren. Das kostet allein Gelsenkirchen jährlich Millionen und ist damit ein weiterer Sargnagel für unsere soziale Gesellschaft“, bekräftigt Ulupinar seinen Unmut.

Aufstiegsgeschichten, wie seine eigene – vom Arbeiterkind zum erfolgreichen Unternehmer – traut er vielen Armutszuwanderern nicht zu. „Es ist eine Frage der Erziehung, der eigenen Motivation, der Bereitschaft sich zu integrieren und Gelsenkirchen als seine neue Heimat zu begreifen. Das sehe ich oftmals nicht“, sagt Ulupinar. Ebenso wenig erkenne er die „nötige Entschlossenheit bei den Gelsenkirchener Parteien“, die Probleme vor Ort anzugehen, ohne die Verantwortung auf Berlin oder Brüssel zu schieben.

„In Gelsenkirchen leben zigtausend Menschen, die ihre Wurzeln in anderen Ländern haben. Sie bringen sich seit Jahrzehnten ein, arbeiten und haben sich ihre eigene Existenz aufgebaut. Ich bin einer von ihnen und mir ist das Schicksal meiner Heimatstadt nicht egal“, sagt Ulupinar und wirft den hiesigen Parteien gleichzeitig ebendies vor.

Von Zonguldak nach Horst und von dort ins Hans-Sachs-Haus? „Das ist alles weit weg, ich weiß. Aber vor 60 Jahren hätte wohl auch niemand für möglich gehalten, was aus den türkischen Gastarbeitern und ihren Nachfahren einmal wird.“