Gelsenkirchen. Eine überstandene Corona-Infektion bedeutet nicht volle Gesundheit. Eine Gelsenkirchenerin (29) spricht über ihre Erfahrung mit Long Covid.
In den Corona-Statistiken steht für sie nur dieses eine Wort: genesen. Doch viele Menschen, die eine Covid-19-Erkrankung hinter sich haben, sind alles andere als gesund. Eine davon ist die Gelsenkirchenerin Sabine S.* (Name geändert). Je länger die Pandemie dauert, desto mehr rücken die Spätfolgen für Erkrankte wie sie in den Vordergrund. Ihre Leidensgeschichte:
Der Weg zurück in die Normalität ist ein entbehrungsreicher und ein langer, davon kann Sabine S. aus Gelsenkirchen berichten. Die Gelsenkirchenerin steckte sich beim Bergsteigen im Urlaub in den Dolomiten mit dem Coronavirus an. „Im September 2020 ist es passiert“, berichtet die heute 29-Jährige. Wann und wo kann sie sich bis heute nicht genau sagen, weil sie als passionierter Outdoor-Fan im Freien ist, wann immer sich Gelegenheit bietet. Das Gefahr im Verzug ist, teilte ihr die Corona-Warn-App mit.
Juristin aus Gelsenkirchen über Long Covid-Beschwerden: Herzrasen, Erschöpfungszustände, völliger Konzentrationsabriss
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Fünf mal die Woche Sport waren für die angehende Juristin, Sabine S. macht in Kürze die mündliche Prüfung für ihr zweites Staatsexamen, eher die Regel als die Ausnahme: Mountainbike-Fahren, Schwimmen, Bergsteigen, Wandern und Kampfsport (Wing Chun) gehörten zu ihrem Standard-Repertoire. „Dass mich Corona treffen könnte, war in meiner Vorstellung unwahrscheinlich bis ausgeschlossen“, blickt die junge Frau zurück. „Es hieß ja sehr lange, die Krankheit träfe eher die Älteren, nicht die Jüngeren. Und schon gar nicht die, die über große sportliche Fitness und entsprechend viele Abwehrkräfte verfügen.“
Heute, beinahe ein Jahr später und um die Erfahrung von Todesangst durch akutes Herzrasen, langwierigen Reha-Maßnahmen und Wiedereingliederung reicher, sieht die Rechtsanwältin in spe das völlig anders. „Wenn andere früher die Seilbahn nahmen, bin ich den Berg rauf gelaufen, um ich warm zu machen.“, erzählt die Gelsenkirchenerin. „Drei Monate nachdem ich das Gröbste der Infektion überstanden hatte, brauchte ich nach zehn Minuten Spazierengehen eine Bank zum Ausruhen“, so die junge Frau weiter.
„Geruchs- und Geschmacksinn waren über Wochen völlig durcheinander geraten“
Gesund war sie zu dem Zeitpunkt noch lange nicht, auch wenn es auf dem Papier und für die Statistik noch so da stand. Atemnotattacken plagten sie, ihre Konzentration riss von jetzt auf gleich einfach ab und wurde von einem Zustand völliger Erschöpfung abgelöst, um nur einige Folgeerscheinungen ihrer Covid-19-Infektion zu nennen. „Geruchs- und Geschmacksinn waren über Wochen völlig durcheinander geraten“, erinnert sie sich weiter, Schokolade schmeckte nach Zwiebeln, und selbst der angenehmste Geruch glich ekligem Gestank. Ihr Rhythmus über Wochen und Monate: Lernen und schlafen.
Post-Covid-Syndrom: Frauen öfter betroffen als Männer
Allein bei der zweitgrößten deutschen Krankenkasse, der Barmer GEK, waren zwischen November 2020 und März 2021 mehr als 2900 Versicherte von einem Post-Covid-Syndrom betroffen, wie eine Auswertung von Versichertendaten der Kasse zeigt, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt.Post-Covid-Syndrome treten der Barmer-Erhebung zufolge bei Frauen häufiger auf als bei Männern. Sie seien zudem stark altersabhängig. So entwickelten Frauen ab 60 Jahren nach leichten Verläufen etwa sechsmal häufiger Post-Covid-Syndrome als Männer unter 40 Jahren.
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„Das war sehr beängstigend“, sagt Sabine S. Ihre „stoische Disziplin“, die vielen aufmunternden Gespräche mit Freunden, der Familie und letztlich mit Dr. Hans-Bernd Tefett haben sie durchhalten und an ein gutes Ende glauben lassen.
Fast am Ziel nach Reha und Wiedereingliederung nach einem Jahr: Job in Anwaltskanzlei
Denn eines war klar: Wenn sie wie geplant ab Herbst 2021 in der Kanzlei, für die sie bereits fünf Jahre neben dem Studium gearbeitet hat, als Volljuristin bestehen will, „dann geht das nur über Leistung und Belastbarkeit“, glaubt Sabine S.
Mit mehr Demut, sagt die 29-Jährige, blickt sie heute auf das Leben. Die Erfahrung von Long-Covid hat sie vorsichtiger werden lassen. Maske, Abstand, Desinfektion sind ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Genau wie die Impfungen, die sie im Nachgang bekommen, auf die sie gedrängt hat und die sie jedem empfiehlt: „Ganz klar und eindeutig, Corona, das brauche ich nicht noch einmal.“
Ihr Wunsch für die Zukunft, abgesehen von Gesundheit? „Gemeinschaft wieder erleben zu dürfen. Das macht uns als Mensch aus“, sagt Sabine S. Ob es aber jemals so wieder wird wie früher, beispielsweise bei Konzerten, da hat die 29-Jährige Zweifel. „Alles wird eine Frage der Abwägung sein, wie viel Nähe wir bereit sind zuzulassen“, so ihre Prognose.
KVWL registriert 591 Long-Covid-Diagnosen in Gelsenkirchen im ersten Quartal
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In Gelsenkirchen gibt es eine beachtliche Zahl von Long Covid-Fällen, das berichten ein Hausarzt und die Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen Lippe (KVWL).„Im ersten Quartal dieses Jahres wurde die Diagnose „Post-Covid“-Syndrom in Westfalen-Lippe insgesamt 9842 Mal gestellt, in Gelsenkirchen waren es 591 solcher Diagnosen“, sagt Vanessa Pudlow, Sprecherin der (KVWL). Die Zahlen des zweiten Quartals sind noch nicht ausgewertet. Legt man diese Zahl in Relation zu den vom Robert-Koch-Institut 8098 registrierten Corona-Fällen in Gelsenkirchen im besagten Zeitraum, ist das umgerechnet ein Anteil von 7,3 Prozent.
„Bei der Interpretation dieser Zahl sollte man jedoch sehr vorsichtig sein“, so Pudlow weiter. Das Beschwerdebild bei einem „Post-Covid“-Syndrom könne sehr unterschiedlich ausfallen, im Ärzteblatt werde von mehr als 200 verschiedenen Symptomen berichtet. „Das erschwert tendenziell die Diagnosestellung, ob zwischen den Beschwerden und einer vorausgehenden Corona-Infektion ein Zusammenhang bestehen könnte“, schlussfolgert die KVWL-Sprecherin. Das heißt: Es können weniger, es könnten aber auch mehr sein.
Long Covid: Gelsenkirchener Hausarzt hält Anteil von 30 Prozent für realistisch
Zu denjenigen, die von einem größeren Anteil ausgehen, zählt der Gelsenkirchener Hausarzt Dr. Hans-Bernd Tefett. „ In meinem Klientel halte ich einen Prozentsatz von etwa 30 Prozent für realistisch“, sagt der Allgemeinmediziner. Immerhin steigen die Infektionszahlen gerade wieder, die deutlich ansteckendere und aggressivere Delta-Variante des Corona-Virus breitet sich aus und noch längst ist Herdenimmunität nicht erreicht, weil die Impfbereitschaft zu wünschen übrig lässt. Vakzin türmt sich in Praxen und Zentren, kaum einer will es aber haben.
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Tefett hat daher Sorge, „dass eine vierte Welle zugleich noch die Zahl der Long-Covid-Patienten anschwellen lässt“. Insbesondere deshalb, weil die meisten Ansteckungen in der Gruppe der 20- bis 24-Jährigen zu verzeichnen sind. Das hat das Robert-Koch-Institut festgestellt. Und auch der Teffet kann diesen Trend aus dem Praxisalltag bestätigen. „Diese Altersgruppe ist ausgesprochen aktiv und mobil“, so Tefett. „Damit steigt das Infektionsrisiko.“
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