Gelsenkirchen. Tamara ist eine der wenigen Gelsenkirchenerinnen, die auf der Straße leben. Doch das hat bald endlich ein Ende. Einblicke in ein leidvolles Leben

„Ich bin wieder ein Mensch mit Schlüssel“, sagt Tamara und strahlt dabei über das ganze Gesicht. Ihr Glück ist geradezu ansteckend. So groß ist ihre Freude, die harten Jahre auf der Straße nun endlich hinter sich zu lassen.

Anfang April fängt für sie ein neues Leben an. Ein besseres, da ist die 34-Jährige sicher.„Ich hatte keine schöne Kindheit“, erinnert sie sich zurück. In Frankreich geboren verliert sie im Alter von erst einem Jahr die Mutter an den Krebs. Der Vater kehrt mit dem Kleinkind und zwei älteren Brüdern nach Gelsenkirchen zurück, in die Heimat. Doch er verliert den Halt, gibt die Kinder zu den Großeltern.

Für Tamara beginnt ein Martyrium: „Opa hat uns gequält.“ Brennende Zigaretten habe er auf ihrem Arm ausgedrückt, erzählt die junge Frau und zieht den Ärmel der dicken Jacke hoch. Unzählige Narben, kreisrund und tief im Fleisch liegend, zeugen von dem Unglaublichen. „Ab meinem fünften Lebensjahr hat er mich auch sexuell missbraucht.“

Die Oma ist Alkoholikerin

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Die Oma ist dem Mädchen keine Hilfe. „Im Prozess später hat sie gesagt, ich sei selbst schuld gewesen, hätte den Opa gereizt.“ Die Großmutter sei Alkoholikerin gewesen. „Wenn morgens andere Mütter mit Kaffee am Tisch gesessen haben, hat sie den Schnaps getrunken.“ Dass Tamara so frei über das Erlebte sprechen kann, das verdanke sie einer späteren Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Als der Vater vom Leid seiner Kinder erfährt, nimmt er sie wieder zu sich. Allerdings hat er keinen Wohnsitz. „Wir haben im Freien gelebt und oft in Abbruchhäusern.“ Irgendwie bringt sich die kleine Familie durch. Bis die Kinder auch den Vater verlieren. Als Teenager findet Tamara ihn eines Tages tot im Park auf.

Die Mittlere Reife im Jugendknast

Weil sie mit dem Vater „Dinger drehte“, um überleben zu können, erwartet Tamara nun eine Jugendstrafe. Die verbüßt sie in Köln, nutzt die Zeit, ihre Mittlere Reife zu machen. Wieder in Freiheit hat sie einen Traum: „Rechtsanwaltsfachgehilfin werden.“ Auch wenn sie bei einem Anwalt zur Probe arbeitet, wird daraus nichts. Dafür absolviert sie eine Ausbildung zur Köchin und Konditorin. „Die habe ich abgeschlossen“, ist Tamara stolz. Das Kochen spielt in ihrem Leben eine wichtige Rolle. Gerne bereitet sie eigene Speisen zu, hat ganz besondere Fertigkeiten entwickelt. Denn die junge Frau kocht auch im Freien, für sich und ihren Freund. „Ich koche auf einem Campingkocher. Da gelingen mir sogar Sachen wie Hackfleisch-Schafskäse-Auflauf. Not macht eben erfinderisch“, sagt sie und lacht. Besonders lägen ihr Soßen, erzählt sie. „Die mache ich alle selbst.“

Wie genau das funktioniert, auf nur einer Kochstelle, ohne Kühlschrank, ohne die Möglichkeiten einer echten Küche? Ganz einfach: Sie kaufe alles in kleinen Mengen und verbrauche es in einem Arbeitsgang. Noch ein Vorteil des Campingkochers: Im Winter spendet er etwas Wärme. „Wenn das Geld nicht reicht für die Notunterkunft.“

Besonders im Lockdown sei es hart gewesen. Weniger Plätze in den Schlafstellen, weniger Einnahmen beim „Schnorren“, dazu strenge Kontrollen öffentlicher Plätze durch das Ordnungsamt. „Wir haben uns aus Verzweiflung mit unserem Zelt im Stadtwald versteckt. Seit Corona ist jeder Tag ein Kampf.“

Die kleine Tochter lebt in Holland

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Wir, das sind Tamara und ihr Freund. Vor zehn Jahren lernen sich die beiden kennen, gehen fortan gemeinsam durchs Leben – zunächst in den eigenen vier Wänden. Vor fünf Jahren werden die beiden Eltern, erblickt die kleine Celina-Joel das Licht der Welt. Das kleine Glück aber währt nicht lang. Die Familie verliert durch unglückliche Umstände die Wohnung. Um zu verhindern, dass sich das Jugendamt einschaltet, geben die Eltern das Kind in die Obhut der Tante nach Holland. Dort lebt sie bis heute. Aber Tamara hält den Kontakt, so gut es geht. „Wir telefonieren einmal in der Woche.“

Die Lebensgeschichte der jungen Mutter berührt – besonders, weil Tamara nicht den Mut verliert. Sie ist eine starke Persönlichkeit, weiß für die eigenen Interessen einzutreten und auch für die anderer. Sie ist sozial, ist sehr engagiert, hat Ziele und Träume. Der Einzug in die eigene Wohnung ist der erste Schritt. Sobald sie sich eingerichtet haben, alles besorgt haben, was sie brauchen, will die künftige Hasselerin wieder arbeiten, hofft, irgendwo eine Stelle zu finden wo man ihr eine Chance gibt.

Das nächste Ziel: Die kleine Tochter wieder zu sich holen. Dann gibt es noch einen Wunsch: eine Hochzeit. Verlobt seien sie ja schon lange, sagt Tamara. Das Ehegelöbnis markiert für sie beim Gedanken an die Zukunft den Punkt, an dem wirklich alles endlich gut ist – irgendwann.