Gelsenkirchen. Zwischen Abbruch und neuem Glanz, an der Grenze zwischen Gelsenkirchen und Essen liegt das abgelegene Viertel: Das ist die berüchtigte Siedlung.
Es gab Zeiten, da war das hier die wohl größte Siedlung für obdachlose Menschen in Nordrhein-Westfalen. Fernab vom Stadtzentrum, weit abgelegen vom nächsten Stadtteilkern wurden rund um die Katernberger Straße nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Wellblechhütten errichtet, die mehreren hundert verzweifelten Seelen ein neues Zuhause boten.
Die kleine Siedlung sollte fortan für viele Menschen zur Heimat werden, die alle eines gemeinsam hatten: Eine Lebensgeschichte, zu der auch Flucht und Verfolgung, Ausgrenzung und nicht selten Gewalt gehörten.
Wie sich die Siedlung an der Katernberger Straße entwickelte
In den 1960er Jahren wurden die Hütten allmählich abgerissen und zweigeschossige Häuser gebaut. Einige der Gebäude sehen heute so aus, als sei seit jenen Tagen keine Schraube mehr erneuert worden. Heruntergekommen. Ungepflegt.
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Andere Häuser hingegen wirken wie neu. Teilweise wurden sie von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft saniert, teilweise von den Bewohnern der Siedlung selbst. Die Flüchtlinge und Heimatlosen von einst haben die Gebäude erworben. Statt in ihren Wohnwagen leben sie nun in ihren Wohnungen mit paillettenbesetzten Gardinen. Doch der Weg dort hin war ebenso lang wie die einzige Straße, die in die abgelegene Siedlung führt.
Dutzende Wohnmobile prägen das Bild des Viertels
In den 1970er Jahren zogen immer mehr deutsche Sinti mit ihren Wohnwagen an diesen Rand Gelsenkirchens. Als in den 1990er Jahren Heizungen, Bäder und Toiletten längst zum Standard einer jeden deutschen Wohnung gehörten, da kochten und heizten die Menschen rund um die Katernberger Straße noch mit Kohleöfen und wuschen sich in Gemeinschaftsduschen.
Das Gedächtnis der Siedlung
Einer, der sich besonders gut an diesen Kontrast erinnert, ist Michael Kapteinat. Der Awo-Sozialarbeiter ist so etwas wie das Gedächtnis dieser Siedlung. Seit 30 Jahren ist „Kapi“, wie die Leute hier ihn respektvoll auf der Straße rufen, schon an der Katernberger Straße tätig. Sein Wirken begann etwa in den Tagen, als immer mehr Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina und aus dem Libanon dort ankamen. Die alten und neuen Nachbarn kamen nicht immer nur gut miteinander aus.
„Heute spielt das keine Rolle mehr“, sagt Kapteinat, „aber es stimmt schon, es gab Zeiten, da fuhr die Polizei hier Großeinsätze mit 30 Beamten.“ Die Enklave an der Endstation des Busses der Linie 382, wo die Stadt 2016 obendrein noch eine Erstaufnahmeeinrichtung für 300 Flüchtlinge baute, musste zunächst erstmal zusammenwachsen.
Wesentlich dazu beigetragen haben Kapteinat und seine Kollegen vom Awo-Beratungszentrum. In allen denkbaren Lebenslagen haben sie die Menschen im Viertel beraten, ihnen mit bei Behördenangelegenheiten geholfen, vermittelt, Wege und Grenzen aufgezeigt.
Täglich bieten sie den Kindern und Jugendlichen im Viertel hinter der Justizvollzugsanstalt ein Freizeitprogramm an, eine Alternative zur Straße, ein niederschwelliges, integratives Angebot, was bis heute gerne angenommen wird.
Kürzlich etwa hat Kapteinat die Zirkus-Familie Probst angerufen und gefragt, ob er nicht in den Ferien mit 30 Kindern für einen Mitmachzirkus vorbeikommen dürfe. Durfte er. „Die Kinder, von denen sonst ja kaum eines mal einen Zirkus von innen sehen würden, probten mit den Artisten, Frau Probst kochte Mittag für alle und am Ende stand eine Show, die die Kinder ihren Eltern präsentierten und ganz sicher nie wieder vergessen werden“, berichtet Kapteinat.
Katernberger Straße: Wo Box-Weltmeister Mahmoud Charr aufwuchs
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Auch der wohl berühmteste Sohn der Katernberger Straße spielte früher gerne im Awo-Gemeinschaftshaus, erinnert sich der 53-jährige Sozialarbeiter.
Mahmoud Charr, vielen auch als Manuel Charr bekannt, wurde 2017 Box-Weltmeister im Schwergewicht. Groß geworden ist Charr, der 1984 in Beirut geboren wurde, in dieser Siedlung. Im September war Charr für einen Videodreh unter dem Titel „Brennpunkt, Großfamilien, Ghettos“ hier. Bei einem Spaziergang durch die Siedlung berichtet Charr von den Spannungen, die das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen vor Ort hatte, aber auch von dem großen Zusammenhalt in diesem abgelegenen Viertel.
Kapteinat nickt zustimmend. „Einige leben hier schon in der vierten Generation. Immer wieder ziehen Menschen zurück an die Katernberger, die zwischenzeitlich in andere Stadtteile gezogen waren. Die Abgeschiedenheit, sie hat auch etwas Familiäres“, sagt der 53-Jährige.
Die Siedlung um die Katernberger Straße, sie hat seit den 1950er Jahren vieles erlebt, war und ist Heimat für Geflüchtete und Vertriebene. Von den meisten Gelsenkirchenern unbemerkt ist ein womöglich einzigartiges Viertel gewachsen, wo Abbruchreifes und Saniertes nebeneinander existieren, wo Wohnwagen statt Lauben im Garten stehen, wo der Knast um ein vielfaches näher ist als der nächste Supermarkt.
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