Gelsenkirchen-Bulmke-Hüllen. Er war der dienstälteste Fraktionschef im Revier: 22 Jahre führte Klaus Haertel die SPD-Fraktion in Gelsenkirchen. Konflikte scheute er selten.

Eine Politikergeneration lang hat er in der ersten Reihe gesessen – im Ratssaal zentral und ganz vorne, eben dort, wo der Fraktionschef der größten Partei sitzt. Den Platz wird künftig Axel Barton einnehmen. Klaus Haertel, seit 1984 Stadtverordneter und seit 1998 Fraktionsvorsitzender der Gelsenkirchener SPD hat den – vor zwei Jahren angekündigten – Rückzug angetreten. Der neue Rat der Stadt: Er wird ab 26. November einer ohne den promovierten Physikochemiker und dienstältesten Fraktionsvorsitzenden im Ruhrgebiet.

Gelsenkirchener SPD-Politiker hat sich aus Aufsichtsräten zurückgezogen

SPD-Fraktionschef Klaus Haertel (links) und der damalige Fraktionsgeschäftsführer Günter Pruin 2017 beim Gespräch über das Bäderkonzept für Gelsenkirchen. Die Umsetzung wird den neuen Rat beschäftigen.
SPD-Fraktionschef Klaus Haertel (links) und der damalige Fraktionsgeschäftsführer Günter Pruin 2017 beim Gespräch über das Bäderkonzept für Gelsenkirchen. Die Umsetzung wird den neuen Rat beschäftigen. © FUNKE Foto Services | Joachim Kleine-Büning
Um integrierte Stadtentwicklung und die Soziale Stadt ging es 2016 bei einem SPD-Fachgespräch in Gelsenkirchen. Klaus Haertel zählte als Vorsitzender des Stadtplanungsausschusses damals neben Barbara Hendricks, Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, zu den Akteuren auf dem Podium.
Um integrierte Stadtentwicklung und die Soziale Stadt ging es 2016 bei einem SPD-Fachgespräch in Gelsenkirchen. Klaus Haertel zählte als Vorsitzender des Stadtplanungsausschusses damals neben Barbara Hendricks, Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, zu den Akteuren auf dem Podium. © Martin Möller / FUNKE Foto Services | Unbekannt


Quantenphysik oder theoretische Chemie haben Haertel in seinem Studium gefordert. Fachkenntnisse, die in einem Lokalpolitikerleben eher selten abgerufen werden. Aber die Fähigkeit zur schnellen Analyse, zum Durchdringen auch komplexer Zusammenhänge, nicht zuletzt das wissenschaftliche Grundverständnis haben ihm im Ausschussalltag geholfen, auch weil ihn früh Umweltfragen umtrieben, als FCKW und Waldsterben noch die drohendsten Klimathemen waren. Dazu kommt ein extrem gutes Gedächtnis. Kaum eine Vorlage, eine Entscheidung aus den letzten Dekaden, die Haertel nicht aus irgendeiner Hirnkammer abrufen konnte – manchmal auch nur, um damit dem politischen Gegner in die Parade zu fahren.

Klaus Haertel wird in diesem Monat 70 Jahre alt. Zeit für ihn, das Kapitel Lokalpolitik zu beenden. Zumindest den aktiven Part als Stadtverordneter. Auch aus anderen Ämtern hat er sich zurückgezogen. Aufsichtsratsposten ohne Mandat? Kein Fall für Haertel. „Das ist meine innerste Überzeugung“, sagt er. „Ich gehöre da nicht mehr rein. Ich merke natürlich auch, dass ich mich deutlich abnabeln musste. Sonst wird man unzufrieden.“

Am Gauß-Gymnasium Abitur gemacht, in Bochum studiert.

Jeck unterwegs: Der SPD-Fraktionschef mischte auch gerne im Karneval mit. Natürlich in Verkleidung und gerne mit Kamera. Klaus Haertel ist begeisterter Hobbyfotograf. Stadtmotive von ihm hängen im Fraktionsbüro der SPD im Hans-Sachs-Haus.
Jeck unterwegs: Der SPD-Fraktionschef mischte auch gerne im Karneval mit. Natürlich in Verkleidung und gerne mit Kamera. Klaus Haertel ist begeisterter Hobbyfotograf. Stadtmotive von ihm hängen im Fraktionsbüro der SPD im Hans-Sachs-Haus. © Funke Foto Services GmbH | Joachim Kleine-Büning


In Frankfurt geboren, kam Haertel 1952 als Kleinkind nach Gelsenkirchen. Die Familie hatte hier verwandtschaftliche Bezüge. Am Gauß-Gymnasium hat Haertel sein Abitur gemacht, in Bochum hat er studiert. Mitte der 1970er Jahre ist er in die SPD eingetreten. „Wenn man etwas fortschrittlicher sein wollte, ist man bei den Sozialdemokraten gelandet“, sagt Haertel, betont aber auch: Deren Werte „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität“ seien stets sein „Maßstab gewesen“.

Haertel sagt von sich: Ich bin schon ein Alphatier

1980 wurde er Juso-Ortsvereinsvorsitzender in Bulmke und hatte den jugendlichen Anspruch, „alles besser zu machen“ als altgediente Genossen. „Die Mandate sind mir nie in den Schoß gefallen“, sagt Haertel rückblickend. Meist ist er nur über Kampfabstimmungen ans Ziel gekommen. „Das war nicht einfach.“ Allerdings hat er auch den Konflikt nie gescheut. „Ich wollte Verantwortung übernehmen. Aber das ist natürlich auch eine Bürde und Verpflichtung, wenn es mal nicht gut läuft“, findet er. Und: „Ich bin schon ein Alphatier - es gibt sicher unterschiedliche Meinungen, ob ein angenehmes oder unangenehmes.“

Zahlreiche Quartiersverbesserungen über Stadtteilprogramme

Als Fraktionschef, findet Haertel, brauche es „eine gewisse Konsequenz und Härte“, doch ebenso die Fähigkeit, Strömungen innerhalb der Fraktion zusammenführen zu können. Fleiß, findet Haertel, schade auch nicht. „Den konnte man mir nie absprechen. Ich bin immer mit dicken Ordnern voller Unterlagen ins Wochenende gegangen.“ Doch letztlich, so der Bulmker, gehe es natürlich nicht nur ums Durchhalten. „Es muss Spaß machen, man muss etwas bewegen können.“

In Zeiten klarer SPD-Mehrheiten waren dafür die Voraussetzungen für ihn gut, auch wenn in Gelsenkirchen stets alle Entscheidungen unter dem Diktat knapper Kassen standen. Den Stadtumbau, die zahlreichen Quartiersverbesserungen über Stadtteilprogramme vor allem in Südost, die Entwicklung am Tossehof verbucht er auf der Habenseite.

„Persönlich stolz bin ich auf die Kita am Wilmshof. Thyssen Wohnen wollte das Haus abreißen. Quasi über Nacht habe ich es geschafft, für das Gebäude den Denkmalschutz hinzukriegen. Im Zusammenspiel mit Frank Baranowski haben wir es dann im Landtag geschafft, Landesmittel loszueisen.“ Entwicklungen aktiv zu verändern, auch Strippen zu ziehen, das hat Haertel nicht nur in diesem Fall politisch angetrieben. „Doch die Sitzungen“, findet Haertel, „sind in den letzten Jahren nicht besser geworden. Und demnächst mit zehn Parteien im Rat wird es noch anstrengender werden.“

„Die Leute sind der Politik gegenüber deutlich reservierter als früher“

Zupackend: Klaus Haertel kann auch Symbolik. Beim Baustart für das Probenzentrum der Heinz-Urban Stiftung im Kurt-Schumacher-Haus in Gelsenkirchen-Scholven griff er zum Abrisshammer.
Zupackend: Klaus Haertel kann auch Symbolik. Beim Baustart für das Probenzentrum der Heinz-Urban Stiftung im Kurt-Schumacher-Haus in Gelsenkirchen-Scholven griff er zum Abrisshammer. © FUNKE FotoServices | Heinrich Jung


Nicht nur der Umgangston in den Stadtparlamenten ist vielfach rüder geworden. Lokalpolitiker, findet Haertel, stoßen zunehmend „auf Skepsis und auch hochgradige Ablehnung. Die Leute sind der Politik gegenüber deutlich reservierter als früher.“ Zudem spürt er einen deutlichen Hang zur Individualisierung und gesellschaftlicher Vereinzelung. „Früher lief vieles gemeinschaftlicher“, stellt er fest. Nicht nur in der SPD.

Nach der Wahlniederlage – und die war das Kommunalwahl-Ergebnis der SPD in Gelsenkirchen für Haertel eindeutig –, muss sich die erfolgsverwöhnte Partei personell geschrumpft jetzt neu orientieren. Eine Große Koalition steht ins Haus. „Wir werden jetzt Federn lassen müssen. Aber diejenigen, mit denen wir eine Koalition eingehen, ebenso“, sieht Haertel die Sache pragmatisch.

Die große Reise nach Patagonien entfällt in Corona-Zeiten

Mit seiner Frau Gabi zog Haertel drei Kinder groß. Wobei sich sein Anteil an der gemeinsamen Erziehung wohl eher übersichtlich gestaltete, angesichts von Job und Ehrenämtern. „Meine Frau sagt immer, eigentlich sei sie alleinerziehend gewesen“, gibt Haertel zu.

Endlich mehr und aktiv gemeinsame Zeit zu erleben, ist das erklärte Ziel des passionierten Hobbyfotografen. Eigentlich wollten die beiden diesen Winter auch nach Patagonien reisen. „Aber das haben wir ersatzlos wegen Corona gestrichen.“ Die Pandemie, glaubt Haertel, werde Wandel und Wirtschaft in Gelsenkirchen „massiv verändern und beeinflussen“ und auch gravierende gesellschaftliche Folgen haben“. In der ersten Reihe im Rat werden sie ihn nicht mehr umtreiben.