Herten-Westerholt. Der Komponist und seine Klavierschülerin Wilhelmine sollen sich 1790/91 näher gekommen sein. Ein Musikstück und ein Text bezeugen Verbundenheit.

Eigentlich keine besondere Geschichte Ende des 18. Jahrhunderts: Ein Musiker bürgerlicher Herkunft verliebt sich in seine adlige Klavierschülerin. Sie weist ihn ab, aus Standesgründen, und heiratet einen Freiherrn. Zum interessanten Stoff für (lokale) Chronisten gerät der Stoff aber trotzdem. Denn bei der Dame handelt es sich um Anna Maria Wilhelmine von und zu Westerholt-Gysenberg. Und bei dem Pianisten um Ludwig van Beethoven, der in diesem Jahr seinen 250. Geburtstag gefeiert hätte.

Ob der etwa 20-jährige Bonner Hofmusiker der 16-jährigen Grafentochter um 1790/91 mehr als nur die Welt der Noten erschloss? Ob er ihr glühende Liebesbriefe schrieb, wenn er ihr gerade nicht nahe sein konnte, weil er für seinen Dienstherrn, den Bischof von Münster und Erzbischof von Köln, zu musizieren hatte? Ob sie seine Zuneigung erwiderte? Das alles wissen wir nicht.

Westerholter Grafenfamilie holte Beethoven als Klavierlehrer ins Haus

Fakt ist: Beethoven (1870-1827) war von 1784 an bei Hof angestellt, wo auch Wilhelmines Vater Ludolf Friedrich Adolf von Boenen zu Berge ab 1785 als Oberstallmeister und Geheimer Rat - kurz: Verwaltungsangestellter - für den Bischof tätig war. "Bonn war damals Residenzstadt des Bischofs und die Grafenfamilie Teil der Hofgesellschaft. Dort wird sie Beethoven begegnet sein", berichtet Dr. Julia Ronge vom Beethoven-Haus Bonn.

Sich einen Hofmusiker als Klavierlehrer ins Haus zu holen, sei damals völlig normal gewesen, zumal für eine musikliebende Familie wie die von und zu Westerholt-Gysenbergs: Der Graf spielte Fagott, sein Sohn Friedrich Otto Flöte und Tochter Wilhelmine (etwa 1773-1852) eben Klavier.

Wilhelmine soll Avancen mit Hinweis auf ihren Stand zurückgewiesen haben

Fakt ist auch: Beethoven komponierte ein Trio in G-Dur sowie eine "Romance cantabile" und bereitete Wilhelmine offenbar auf Benefizkonzerte in Bonn und Münster vor. "Auch das ist nicht ungewöhnlich für eine höhere Tochter", so Dr. Ronge.

Dass sich Lehrer und Schülerin beim gemeinsamen Musizieren näher gekommen seien, als es die Standesetikette erlaubte; dass er ihr als Zeichen seiner Zuneigung eine (nicht erhaltene) Klaviersonate gewidmet habe; dass die Grafentochter ihn letztlich abgewiesen habe mit den Worten "Ich bin nun einmal die Tochter meiner Eltern": All das findet sich in der Sekundärliteratur, "ist aber Spekulation und zum größten Teil extrem unwahrscheinlich", betont die Beethoven-Kennerin.

Jugendfreund berichtet von einer "Werther-Liebe"

"Es mag sein, dass der junge Komponist für Wilhelmine geschwärmt hat. Er war in seinem Leben ja vielen Frauen zugetan", räumt sie auch vor dem Hintergrund ein, dass Beethovens eigentlich glaubhafter Jugendfreund Franz Gerhard Wegeler von einer "liebevollsten Zuneigung" des Musikers zu einem "schönen und artigen Fräulein v. W.", gar von einer "Werther-Liebe" sprach - also von Einseitigkeit geprägt. Ob das "Fräulein v. W." die Comtesse aus dem Westfälischen war, sei zwar "nicht völlig aus der Luft gegriffen, aber auch nicht überprüfbar."

"Die Zwei werden allerdings kaum allein gewesen sein, das hätte nicht den gesellschaftlichen Konventionen entsprochen. Nicht zuletzt wäre ein echtes Verhältnis für beide sozial tödlich gewesen", so Dr. Ronge.

Musikwissenschaftlerin hält Affäre für unwahrscheinlich

Die Grafentochter hätte ihren Status, jede standesrechtliche Versorgung und auch ihr Erbe verloren. "Das wäre ein harter gesellschaftlicher Abstieg auf den Stand einer niederen Dienstmagd gewesen, das ist undenkbar."

Auch für Beethoven selbst hätte dann zu viel auf dem Spiel gestanden. "Er war ja materiell und sozial völlig von der Anstellung bei Hofe abhängig. Das zu riskieren, hätte nicht nur für ihn den Ruin bedeutet, sondern auch für seine drei Geschwister, die er mitzuversorgen hatte." Sein Vater war nach dem Tod der Ehefrau 1887 der Alkoholsucht verfallen und vom Dienst suspendiert, der 17-Jährige also faktisch das Familienoberhaupt.

Westerholter Heimatverein hütet Stammbuch-Blatt Beethovens an Wilhelmine

Trotzdem: Das Westerholter Heimatmuseum hütet die gerahmte Kopie eines Schreibens, mit dem der junge Komponist der Adligen (wohl vor 1790) ins Stammbuch schrieb: "(…) für dich, meine sehr liebe Freundin! Niemals wird mein Herz sich verändern und immer wird es dich lieben." Also doch mehr als Freundschaft?

"Dazu dient das Zitat nicht als Beweis. Denn ein Stammbuch war so etwas wie ein Poesiealbum. Beethoven wird den Spruch irgendwo abgeschrieben haben", stellt Dr. Ronge klar.

Komponist besaß in jungen Jahren große Ausstrahlung

Kurz: Belege für eine nähere Beziehung, gar eine Affäre, die gibt's nicht. Genügend Raum also für Spekulationen, wie Beethoven auf Wilhelmine gewirkt haben mag. Gilt der Komponist doch als Frauenheld, der "immer in Liebesverhältnissen" gewesen sei und "ständige Eroberungen" gemacht habe, wie sein Jugendfreund Wegeler behauptet.

Wie das zusammenpasst mit dem Bild des kleinen, eher finster dreinblickenden und ungepflegten Mannes? "Das mag Beethoven im Alter gewesen sein, als seine Taubheit ihm aufs Gemüt schlug. Aber Bilder aus jungen Jahren porträtieren ihn als gut aussehenden, sehr sorgfältig gekleideten und frisierten Mann. Wir wissen, dass er damals ein geselliger, lustiger Typ war, der sich bei Hofe zu bewegen wusste." Ob sich die Grafentochter diesem Charme entziehen konnte?

1792 jedenfalls heiratete sie den Freiherrn Friedrich Clemens von Elverfeldt zu Dahlhausen und Steinhausen und bekam mit ihm vier Söhne und eine Tochter. Sie überlebte Beethoven um 25 Jahre.

Grafenfamilie geht heute emotionslos mit der möglichen Liaison um

Die Westerholter Grafenfamilie selbst weiß um die Legende, dass der berühmte Komponist "ein Krösken" mit der Vorfahrin gehabt haben soll, wie Carlo Graf von Westerholt schmunzelnd erzählt. "Aber für uns hat das nie so eine große Bedeutung gehabt. Viel wichtiger war, dass sich damals zwei Familienzweige herausgebildet und in eine rheinischen und einen westfälischen getrennt haben", so der 45-Jährige.

Ob Beethoven 1790/91 auf Schloss Westerholt war? "Das wissen wir nicht. Falls es dazu Dokumente gab, dann sind sie bei dem großen Feuer 1830 mitverbrannt", pflegt er einen "emotionslosen" Umgang mit dem Thema. Musikwissenschaftlerin Ronge hält einen Besuch für unwahrscheinlich. "Als Hofmusiker des Bischofs dürfte er dafür keine Zeit gehabt haben."

Dennoch: Wenn Mechthild Hetterscheidt, Vorsitzende des Westerholter Heimatvereins, bei Führungen von der möglichen Li­ai­son erzählt, sorgt das bei ihrem Publikum für glänzende Augen. "Viele haben davon noch nie gehört. Die staunen dann nicht schlecht."