Gelsenkirchen-Buer. Der Bueraner Marcel Grzanna arbeitete neun Jahre lang als Journalist in China. Über seine Erlebnisse schrieb er nun ein Buch.

„Der große Bruder spricht chinesisch.“ So steht es auf dem Deckel des Buches von Marcel Grzanna. Mit dieser Anspielung auf Orwells „1984“ weiß ein jeder, wohin auf diesen rund 320 Seiten die Reise geht. Der Bueraner, der ab 2006 ganze neun Jahre im Reich der Mitte verbringt, beschreibt darin Innenansichten einer „Gesellschaft in Unfreiheit“ – aus der Sicht und dem Erfahrungsschatz eines freien Journalisten.

Zeigen, wo die roten Linien der Diktatur in China entlang verlaufen

„Dieses Buch wollte ich immer schreiben, weil wir durch unsere Berichterstattung das Glück hatten, China in seinen Grenzbereichen kennen zu lernen, dort, wo die roten Linien der Diktatur verlaufen.“ Wir, das sind Marcel Grzanna, schreibender Journalist und langjähriger Korrespondent für die „Süddeutsche Zeitung“, und seine Frau Pia Schrörs, Fernsehjournalistin und Mitarbeiterin der RTL-Gruppe.

Geboren wird Marcel Grzanna 1973 in Schalke. Ein Teil seines Herzens schlägt bis heute für Stadtteil und Club gleichermaßen. „Mein Opa hat 30 Jahre lang Eintrittskarten verkauft für Schalke“, erzählt er mit funkelnden Augen. Im Alter von sechs Jahren zieht er mit seiner Familie nach Buer, macht sein Abi am Max-Planck-Gymnasium – und verspürt wenig später eine noch ziellose Aufbruchstimmung in sich. Als junger Journalist kommt ihm eine Meldung unter. Deren Inhalt: Die Buslinien in Athen während der Olympischen Spiele. „Da fiel bei mir der Groschen. Ich dachte, wenn du ins Ausland willst, dann dahin, wo Olympische Spiele stattfinden.“ Dort gebe es Arbeit für Journalisten. „Und 2008 stand eben Peking an.“ Er erzählt seiner Freundin Pia von seiner Idee. „Sie sagte sofort, lass uns nächste Woche zur Volkshochschule gehen und Chinesisch lernen.“

Gesichten aus dem Leben in China - spannend wie ein Agententhriller

Ein Bild von Marcel Grzanna aus früheren Tagen bei einer Reise durch China. Der Journalist arbeitete früher für die WAZ.
Ein Bild von Marcel Grzanna aus früheren Tagen bei einer Reise durch China. Der Journalist arbeitete früher für die WAZ. © WAZ | Privat

Die Erlebnisse der beiden, niedergeschrieben im Buch, sind gleichsam autobiografisch und persönlich wie sinnbildlich für das Leben in einer autokratischen Gesellschaft, welche Uniformität als Maß aller Dinge begreift, alles in den Dienst einer höheren, politischen Sache stellt. Und so lesen sich die Berichte zuweilen spannend wie ein Agententhriller. Da stockt einem schon mal der Atem, da fiebert man mit, weil manches so unglaublich klingt und doch eben keine Fiktion ist.

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Der rote Faden: Das große Glück, in einem Rechtsstaat zu leben

Dieses Buch zu schreiben, das ist Marcel Grzanna nach seinem Abschied von China ein Herzensanliegen. Es gehe im darum, „die Bedeutung von Demokratie und Rechtsstaat zu beleuchten“. Schließlich spüre man ja an vielen Orten dieser Welt eine Demokratieverdrossenheit. Unterm Strich aber sei diese unsere Staatsform ein großes Glück. „Man muss sich klar machen, wie hart die Realität ist in einem diktatorischen Staat.“ Sie stellt der Autor in 18 Kapiteln dar. Vermutlich mit Folgen: In den nächsten Jahren müsse er wohl damit rechnen, kein Visum mehr zu bekommen. „Wir haben aber schon China während unserer Arbeit gesagt, wenn die Konsequenz ist, dass wir raus fliegen, dann ist das so. Deswegen zensieren wir uns nicht selbst.“

Corona-Krise verhindert geplante Lesung in Gelsenkirchen

Das Buch „Eine Gesellschaft in Unfreiheit“ von Marcel Grzanna ist im Goldmann-Verlag erschienen. Es ist im Handel erhältlich und kostet 15 Euro.

Gerne will der Autor in seiner Heimat auch eine Lesung anbieten. Nur sei das im Moment, der aktuellen Verhaltensregeln wegen, schwierig.

Demnächst wird Marcel Grzanna mit seiner Familie in Köln leben und von dort aus als freier Journalist arbeiten – gelegentliche Recherchereisen in ferne Lande inklusive.

Lebensfrohe, debattierfreudige Menschen in China kennen und schätzen gelernt

In Sachen China betreibt Marcel Grzanna dennoch keine Schwarzmalerei. Im Gegenteil. Im persönlichen Gespräch wird deutlich, es gibt viele Aspekte seiner einstigen Wahlheimat, die er liebt. Vor allem die Menschen sind ihm ans Herz gewachsen. „Man kann mit Chinesen wunderbar lachen. Das sind sehr lebensfrohe Menschen, immer bereit, mir Dir einen Schnaps zu trinken“, überrascht Marcel Grzanna. „Wenn dieses Land, mit seiner Debattierfreude und seiner Meinungsstärke, kontrovers diskutieren dürfte, wäre der Input, den dieses Volk der Welt geben könnte, von unschätzbarem Wert“, sagt er leidenschaftlich. „Aber das gibt es nicht. Auf diese Ressource wird komplett verzichtet.“

Aktuell ist der 47-Jährige wieder in Buer, quasi gestrandet, wegen der weltweiten Pandemie. Eigentlich hätte er nun in Tokio sein, im Vorfeld der Olympischen Spiele berichten wollen und Geschichten erzählen mit diesem, seinen besonderen Blick auf die Dinge. Das muss nun warten. Zeit, die Marcel Grzanna vielleicht schon für ein neues Buch nutzt. Eines nämlich sei klar: „Für mich war das nur der Startschuss.“