Gelsenkirchen-Buer. Sara Heinrich-Balestri fühlt sich von Gläubigen in der Toskana gebraucht. Ihre Eltern Lisa und Rolf Heinrich aus Buer halten Handy-Kontakt.
Überfüllte Intensivstationen, fiebernde Patienten, die mangels Betten auf den Krankenhausfluren kampieren: Die Fernsehbilder aus Italien, dem in Europa am schwersten von dem Coronavirus betroffenen Land, haben Lisa und Rolf Heinrich aus Buer mit besonderer Sorge verfolgt. Denn ihre Tochter Sara Heinrich-Balestri lebt und arbeitet im toskanischen Castagneto Carducci. Sie um die Rückkehr ins komfortable Deutschland zu bitten, kam ihnen allerdings nicht in den Sinn, wissen sie doch: Die Pfarrerin wird von ihren Gemeindemitgliedern gerade jetzt dringend gebraucht.
"In emotional schwachen Momenten, ja, da habe ich mir vielleicht gewünscht, dass Sara mit ihrem Mann und den zwei Kindern ins sichere Gelsenkirchen zurückkommt. Aber nein, rational betrachtet, muss sie ihre Frau stehen. Sie ist doch ziemlich unerschrocken und wird das schaffen", sagt Lisa Heinrich (66), und ihr Mann - selbst pensionierter Pfarrer der evangelischen Lukas-Kirchengemeinde Hassel - ergänzt: "Wir haben sie immer darin unterstützt, genau das zu tun, wofür sie sich wirklich begeistert. Und das ist nun mal ihre Arbeit als evangelische Theologin in Italien."
Gelsenkirchener erzählt Enkeln Gutenacht-Geschichte per Handy
So geht das Paar die Sache mit der Überbrückung von rund 1300 Kilometern Entfernung ganz pragmatisch an, sprich: mit Hilfe digitaler Technik. "Wir telefonieren täglich über Facetime, so dass wir uns auch sehen können. So halten wir auch den emotionalen Kontakt zu unseren Enkeln aufrecht, für die Umarmungen bei unseren sonst regelmäßigen Besuchen sehr wichtig sind", so Heinrich (74).
Er, der seinen eigenen Kindern eigentlich nie etwas vorgelesen hat, weil er den ganzen Tag über immer sprechen musste, ist jetzt in der Corona-Krise zum Geschichten-Opa geworden. "Um punkt 19 Uhr geht's los, dann lese ich den Drei- und Fünfjährigen Gute-Nacht-Erzählungen vor. Und wehe, ich bin nicht pünktlich, dann rufen sie schon an und fragen, wo ich denn bleibe", berichtet Heinrich schmunzelnd. Mit der Tochter selbst tauscht er sich natürlich auch aus, zumal theologisch, "und das sehr rege".
Pfarrerin muss in Italien Seelsorger auf Distanz betreiben
Nach 35 Jahren Erfahrung als Gemeindepfarrer kann er gut nachvollziehen, was die 42-Jährige an deren Arbeit so fasziniert. "Ich habe das Gefühl, gebraucht zu werden", betont Sarah Heinrich-Balestri. Da das öffentliche Leben zum Erliegen gekommen ist und auch Treffen von Gläubigen verboten sind, organisiert sie die Seelsorge auf Distanz zumeist telefonisch. "Meine Hauptbeschäftigung ist tatsächlich Zuhören. Viele leiden unter der Einsamkeit und Isolation, vor allem für ältere Menschen ist das eine große Belastung. Andere bangen um ihre Existenz und verzweifeln daran, sich nicht um ihr Geschäft oder ihr Restaurant kümmern zu können."
Pflegepersonal wiederum leide nicht nur unter der belastenden Arbeit, sondern habe Angst um die eigene Gesundheit und die der Familie. "Ich kenne einen Arzt, der seine kleine Tochter, außer über Skype, seit vier Wochen nicht mehr gesehen hat." Wirklich trösten könne sie in solchen Situationen kaum, "aber ich versuche, da zu sein und einen Ort zu schaffen, wo die Menschen ihre Ängste und Sorgen aussprechen können."
Straßen in der Toskana wirken wie leergefegt
Dabei macht die Pfarrerin, die mit einem Kollegen für die Gemeinden in Pisa, Livorno und Rio Marina auf der Insel Elba zuständig ist, auch durchaus schöne Erfahrungen: "Wir haben uns, so gut es geht, über das Internet organisiert. Viele Gemeindegruppen treffen sich jetzt online, der sonntägliche Gottesdienst wird per Video aufgezeichnet. Unser Bibelstudium hat inzwischen mehr als doppelt so viele Teilnehmer wie vor der Coronakrise. Die Gottesdienste im Internet erreichen bis zu 700 Klicks, so viele Menschen würden in unserer Kirche niemals Platz finden."
Sorge um ihre eigene Gesundheit hat die gebürtige Hasselerin nicht. In ihrem 9000-Seelen-Ort in der Provinz Livorno am Tyrrhenischen Meer ist die Situation längst nicht so dramatisch wie etwa in Bergamo oder anderen norditalienischen Corona-Hotspots. "Wir haben in der Toskana großes Glück, das Gesundheitssystem funktioniert hier verhältnismäßig gut, zusätzlich hatten die Krankenhäuser Zeit, sich auf die Krise vorzubereiten. Zu bedrohlichen Engpässen und Überlastung, wie in der Lombardei, ist es bei uns glücklicherweise nicht gekommen." Es sehe so aus, als sei die erste Welle an Erkrankungen im Abklingen begriffen.
Warteschlangen vor den Supermärkten, ja, die gebe es, aber vor allem wegen der Einlasskontrollen. Denn seit einigen Wochen gilt eine Maskenpflicht. Ansonsten sei das öffentliche Leben auf ein Minimum reduziert. "Man sieht kaum mehr Menschen auf den Straßen." Das strikte Ausgangsverbot, das in ganz Italien gilt, werde von der Polizei kontrolliert, die Angaben auf den Formularen, mit denen der Ausgang begründet werden muss, werde streng überprüft. "Bei Übertretung des Ausgangsverbotes drohen mehrere tausend Euro Strafe und sogar Haftstrafen", so die 42-Jährige.
Pfarrerin muss sich als Deutsche rechtfertigen
Obwohl sie mit einem Italiener verheiratet ist und seit 2016 in der Toskana lebt und arbeitet: In der Coronakrise wird sie verstärkt als Deutsche wahrgenommen. Eben als Bürgerin jenes Landes, das gemeinschaftliche Schulden der EU-Mitgliedsstaaten (Eurobonds) ablehnt und zu Beginn der Pandemie die Ausfuhr von Schutzkleidung und Desinfektionsmittel nach Italien nicht genehmigt hat.
"Ja, es ist tatsächlich so, dass viele Italiener das den Deutschen übel nehmen. Sie fühlen sich in der Krise im Stich gelassen. Vielen drängt sich die Frage auf, welchen Wert die europäische Union eigentlich hat." Leider hätten in einer solchen Situation vor allem populistische Kräfte ein leichtes Spiel, die versuchen, den europäischen Zusammenhalt zu schwächen. "Die Sache mit der Schutzbekleidung scheint mir aber durch die Aufnahme von italienischen Covid-19-Patienten in deutschen Krankenhäusern inzwischen etwas ausgeglichen worden zu sein."
Persönliche Reaktionen bekomme sie vor allem über die sozialen Medien mit, vereinzelt auch im direkten Gespräch. "Ich versuche dann zu verdeutlichen, dass ich weder für Deutschland noch für Italien, sondern für eine gemeinsame europäische Lösung bin." Es sei jetzt allerdings sehr wichtig, dass aus Deutschland auch klare Signale europäischer Solidarität kommen.